Chinua Achebes Roman Alles zerfällt gilt als Meilenstein der Literatur aus Afrika. Heimkehr in ein fremdes Land ist das zweite Buch aus Achebes „Afrikanischer Trilogie“, zu der außerdem Der Pfeil Gottes gehört, und richtet den Blick auf den Enkel des Protagonisten von Alles zerfällt. Obi Okonkwo repräsentiert dabei einen Teil einer Generation im Nigeria an der Schwelle zur Unabhängigkeit, und seine Geschichte steht stellvertretend für strukturelle Probleme beim Aufbau eines Staatswesens im Spannungsfeld zwischen Tradition, Kolonialismus und Moderne. Der Roman ist zweifelsohne eine kluge Analyse. Es ist ein realistischer, lakonischer Roman in sachlicher Sprache, der den Schwerpunkt auf seine Thesen legt und den Leser auf Distanz hält.
Mein Eindruck war: Achebes Roman ist weniger von Menschen aus Fleisch aus Blut bevölkert, sondern von Figuren, die für etwas Bestimmtes stehen: In erster Linie erfüllt diese Funktion Obi Okonkwo als typischer Fall des Nigerianers, der nach einem Europa-Aufenthalt idealistisch zurück nach Nigeria kommt und sich angesichts der dortigen Lebenswirklichkeit schwer tut, sich zu reintegrieren.
Hohe Erwartungen werden enttäuscht
Die Bewohner seines Heimatdorfs Umuofia, die sich als nach Lagos Übergesiedelte in der Vereinigung „Progressive Union“ gegenseitig unterstützen, haben zusammengelegt, um dem begabten Obi das Studium in England zu finanzieren. Sie haben die Hoffnung, dass im Anschluss ein im Rechtssystem der Kolonialmacht Geschulter vor Ort ihre Interessen vertreten kann. Doch schon dadurch, dass er in England nicht etwa Jura, sondern Literatur studiert, enttäuscht Obi die in ihn gesetzten Erwartungen.
Nach seiner Rückkehr zeigt sich in noch vielen weiteren Aspekten, dass die Denkweisen, die er in England übernommen hat, nicht mehr mit der Realität und Mentalität seines Heimatlandes zusammenpassen. Das beginnt damit, dass er zu einem Empfang zu seinen Ehren nicht etwa, wie man es vor Ort für angemessen hält, im festlichen Igbo-Gewand erscheint, sondern westlich-leger gekleidet.
Immerhin: Beruflich fasst er, wie allgemein gewünscht, in den „weißen“ Sphären der Bürokratie Fuß und taugt damit zum Hoffnungsträger auf nigerianische Selbstverwaltung – die Handlung spielt 1956/57 und damit kurz vor der Unabhängigkeit 1960. Obi arbeitet in einer Stelle, die Stipendien fürs Studium im Ausland vergibt. Hier wird er rasch mit Bestechungsversuchen konfrontiert – sei es, dass ihm Geld, sei es, dass ihm sexuelle Dienste angeboten werden. Beides lehnt er aus moralischen Gründen ab. Das ist nicht der Staat, den er mit aufbauen möchte. Unter seinen nigerianischen Freunden stößt diese Integrität allerdings nicht unbedingt auf Verständnis.
Traditionelles Denken steht Liebe entgegen
Auch in seiner Verweigerung, bei der Alltagskorruption bei einer Polizeikontrolle im Straßenverkehr mitzumachen, wirkt er eher als unbeholfener Außenstehender, der alles nur schlimmer macht.
Und dann ist da der große familiäre Konflikt. Obi hat in England die schöne Krankenschwester Clara kennen gelernt. Nach der gemeinsamen Schiffsreise zurück nach Nigeria sind sie in Lagos ein Paar, Obi will sie heiraten. Das Problem: Sie ist osu, gehört also einer als sozial aussätzig angesehenen Kaste an. Seine Familie kann eine Heirat deswegen nicht akzeptieren – nicht einmal der Vater, der doch eigentlich der traditionellen Kultur und dem „Aberglauben“ rigoros den Rücken gekehrt und sich dem Christentum zugewandt hat. Obi, der sich als rational und aufgeklärt betrachtet, sieht in keiner Weise ein, sich an grausame, archaische Konventionen zu halten, und will Clara dennoch heiraten. Das bringt ihn aber in Konflikt mit den Eltern, der Umuofia Progressive Union und eigentlich seinem ganzen sozialen Umfeld.
Währenddessen spitzt sich Obis finanzielle Lage trotz des eigentlich gut bezahlten Jobs zu. Da sind Medikamente für die kranken Eltern zu bezahlen und das Schulgeld des Bruders. Und dann übersieht Obi auch noch, dass einmal jährlich die Autoversicherung fällig wird. Zusätzlich wird er bestohlen. Schließlich entstehen auch noch Kosten, weil eine Abtreibung bei Clara zu bezahlen ist.
Achebe erzählt kühl
Der materielle in Kombination mit dem gesellschaftlichen Druck bringt ihn schließlich dazu, doch Schmiergelder anzunehmen. Genau das, was doch jedermann von ihm zu erwarten scheint, bringt ihn am Ende auf die Anklagebank. Er ist auf ganzer Linie gescheitert – wie der Leser gleich im ersten Kapitel erfährt, von wo aus die Geschichte rückwärts aufgerollt wird.
Achebe erzählt kühl und scheinbar unbeteiligt. Heimkehr in ein fremdes Land wirkt wie ein Exemplum, das illustriert, was alles die Entwicklung afrikanischer Staaten behindert. Dabei schont Achebe weder die weißen „Kolonialherren“ noch die einheimische Bevölkerung.
Auf afrikanischer Seite sind da der Zusammenhalt und die Solidarität der Familie und der Dorfgemeinschaft – an sich positive Werte, die aber auch fesseln, blockieren und die freie Entfaltung des Individuums verhindern. Auf Obi lastet ein enormer Erwartungsdruck: Der Europa-Heimkehrer soll die Rolle des Heilsbringers einnehmen, der vor allem alles bezahlt. Dem ist Obi nicht gewachsen. Auch viele heutige Migranten, die aus dem „Westen“ ihr gesamtes Geld an die Familie schicken und daher selbst auf keinen grünen Zweig kommen, dürfte das bekannt vorkommen.
Dann sind da die „westlichen Werte“, nach denen Obi in England gelebt hat. Positiv formuliert Freiheit, Individualität, Aufgeklärtheit, Laizismus, negativ gesehen Traditionsvergessenheit, Materialismus und etwas Heuchelei. Dem westlichen Leser ist Obi damit sicherlich näher. Doch auch ihm zeigt Achebe gnadenlos die Grenzen auf. So idealistisch, wie man meinen könnte, wirkt Obis rebellische Liebe zu Clara zum Beispiel nicht. Man fragt sich eher, was die beiden überhaupt aneinander finden, sie haben wenig gemein. Ist es etwa nur die missglückte Imitation einer europäischen „romantischen Liebe“?
Pessimistisches Bild von der Lage des Landes
Die in Nigeria lebenden Engländer, repräsentiert durch Obis Chef Mr. Green, zeichnen sich durch Chauvinismus, Vorurteile und bestenfalls eine falsche Helfermentalität aus. Auf keinen Fall sind sie bereit, der einheimischen Bevölkerung auf Augenhöhe zu begegnen. Andererseits ist manch ein Kritikpunkt an den Nigerianern, den Achebe einem herablassenden Weißen in den Mund legt, durchaus berechtigt, etwa mangelnde vorausschauende Planung. Achebe nimmt eben niemandes Seite ein, ist allen gegenüber gleich kritisch.
Wärme und Sympathie scheinen da nur selten durch, am ehesten wohl gegenüber Traditionen wie Igbo-Märchen oder -Sprichwörtern, die sprachliche Farbtupfer in Achebes sachlichem Stil bilden. Althergebrachte Werte idealisiert Achebe aber auch keineswegs. Der osu-Kult wirkt antiquiert und extrem ausgrenzend. Gleichzeitig zeichnet Achebe ein Bild einer sich selbst verleugnenden Gesellschaft, repräsentiert vom rigorosen Bruch, den Obis Vater gegenüber dem afrikanischen „Heidentum“ vollzogen hat.
Es ist also ein sehr facettenreiches, differenziertes, gleichzeitig pessimistisches Bild seines Landes, das Achebe zeichnet. Einen Ausweg zeigt er nicht auf. Auch wenn Achebe nicht Partei ergreift, nimmt der Roman doch am ehesten die Perspektive des „westlich gebildeten Afrikaners“ ein. Obi bleibt trotz seiner Unbeholfenheit und Fehler die plastischste Figur und lädt zur Identifikation ein. Ob seine Lebensweise einem Land wie Nigeria eine Perspektive aufzeigt, ist bis heute unklar und ist wohl alles andere als Konsens, richtet er sich doch an „westlichen Werten“ aus. Achebe bietet also weiterhin viel intellektuellen Diskussionsstoff und manch kluge Einsicht und bleibt deswegen unbedingt lesenswert.
- Chinua Achebe, Heimkehr in ein fremdes Land, Aus dem Englischen von Susanne Koehler, Fischer Taschenbuch, 192 Seiten, 8,99 als E-Book, 9,99 Euro als Taschenbuch.