Was war der Moment, in dem die Kindheit endete und der Eintritt ins Erwachsenenleben begann? Manchmal lässt sich da rückblickend tatsächlich ein bestimmtes Schlüsselerlebnis, ein klarer Wendepunkt benennen. Elena Ferrante baut ihren Roman Das lügenhafte Leben der Erwachsenen auf genau so einem Kipppunkt auf. Die 13-jährige Protagonistin und Ich-Erzählerin Giovanna belauscht eines Abends ein Gespräch zwischen ihren Eltern. Der Vater, der sie doch zu vergöttern schien, sagt abschätzig über die Tochter, sie gleiche immer mehr ihrer Tante, einer in der Familie verpönten Figur. Von hier aus entwickelt Ferrante eine Pubertätsgeschichte mit viel innerer psychologischer Spannung, angereichert mit einem scharfen soziologischem Blick auf Neapel. Ein kluges Lesevergnügen, bei dem man aber auch einiges an verschwitzter Teenager-Schwüle abbekommt.
Das Geheimnis um Tante Vittoria
Erzählerisch höchst gekonnt ist es, wie Elena Ferrante den Leser in ihre Geschichte hineinzieht. Sie hat den Leser von Anfang an mit dem Geheimnis am Haken, was es mit der besagten Vittoria wohl auf sich haben mag. Von der Schwester des Vaters ist in Giovannas Familie stets als von einer äußerlich wie charakterlich hässlichen Person die Rede gewesen. Der Kontakt ist seit Jahren abgebrochen. Der Vater hat sie sogar auf alten Fotos regelrecht ausradiert. Auf der Suche nach Antworten und nach der eigenen Identität – immerhin gleicht sie der Tante angeblich doch so sehr – begibt sich der Teenager auf Spurensuche.
Sie begegnet schließlich einer schillernden Figur, die in scharfem Kontrast zu Giovannas Elternhaus steht. Der Vater hat den Aufstieg in die intellektuelle Mittelschicht geschafft, er und seine Frau sind Lehrer, wohnen in einem wohlsituierten Viertel Neapels, das auch rein topografisch auf einer höheren Ebene der Stadt liegt, erziehen die Tochter aufgeklärt-atheistisch. Seine einstigen ärmlichen familiären Verhältnisse hat er hinter sich gelassen – verkörpert durch Vittoria mit ihrer fehlenden Schuldbildung, mangelnden Umgangsformen, volkstümlichem Katholizismus und dem verwahrlosten Wohnumfeld.
Selbstfindung eines Teenagers
Vittoria raucht und flucht, spricht Dialekt, schwankt zwischen grober Ruppigkeit und Gefühlsüberschwang und ist offenbar von einem unversöhnlichen Groll gegen den Bruder besessen. Giovanna ebenso wie den Leser zieht diese wilde, widersprüchliche Figur in ihren Bann. Zudem wartet sie noch mit einer ungezügelten, tragischen Liebesgeschichte auf. Vittoria war einst dem Polizisten Enzo verfallen. Dass er verheiratet war und drei Kinder hatte, störte sie wenig. Nun ist Enzo seit vielen Jahren tot, und Vittoria bildet mit dessen Witwe und Waisen – alle etwas älter als Giovanna – eine Art Wahlfamilie.
Für Giovanna ist Vittoria und deren soziales Milieu ein Identifikationspunkt, anhand dessen sie sich auf dem Weg ins Erwachsenenalter und zur eigenen Persönlichkeit von den Eltern abgrenzt. Dazu gehört auch die Annäherung an die von Vittoria in Erinnerung an Enzo schwülstig heraufbeschworene Sexualität. Zur gleichen Zeit zerbricht das von Giovannas Eltern aufgebaute scheinbare Familienidyll. Der Vater hat die Mutter über viele Jahre mit deren bester Freundin betrogen. Giovanna muss erkennen, dass die Eltern nicht die strahlenden Figuren sind, die sie als Kind in ihnen gesehen hat, sondern ein großes Lügengebäude errichtet haben. Jetzt, da es zusammenfällt, treten viele Schwächen hervor.
Erwachsenwerden zwischen sozialen Schichten
Ganz so fesselnd geht es im Roman allerdings in der Folge nicht weiter. Sobald einmal die Frage geklärt ist, was es mit Vittoria auf sich hat, war für mich ein wenig die Luft raus. Aus dieser faszinierenden zwiespältigen Persönlichkeit, die das heimliche Zentrum des Romans hätte sein können, ergibt sich zu meiner Enttäuschung nicht mehr allzu viel. Giovannas Selbstfindung vollzieht sich nun – die Romanhandlung umfasst rund drei Jahre in den 1990ern – eher anhand der Beziehungen zum anderen Geschlecht. Schwärmereien, die Selbstwahrnehmung des eigenen Körpers, das Bewusstsein, wie sie von anderen wahrgenommen wird, das Spiel damit, erste handfestere erotische Erfahrungen: All das schildert Elena Ferrante psychologisch stimmig, aber manchmal vielleicht mit ein paar Verästelungen und Pubertäts-Verwirrungen zu viel.
Giovannas Liebe zu dem zehn Jahre älteren Theologie-Studenten und charismatischen Prediger Roberto tritt nun ins Zentrum und soll das Interesse des Lesers bei der Stange halten. Auch ihn führt Ferrante raffiniert ein, weckt Neugier, indem sie zunächst nur andere Figuren über ihn sprechen lässt, bevor er erstmals leibhaftig im Roman auftritt. Die große Sogwirkung flaute für mich aber mit Fortschreiten des Romans leicht ab. Auch wenn die Autorin durchaus noch genügend Kniffe und Überraschungen auf Lager hält, dreht sich mit der Zeit doch einiges im Kreis.
Überstrapaziertes Motiv des Armbands
Symptomatisch dafür ist das überstrapazierte Motiv eines Armbands. Wer es wann wem geschenkt hat, wer es versteckt oder unterschlagen hat, wie es an wem wirkt: All solche Fragen variiert der Roman über die ganze Strecke mannigfach und verwirrend, ohne dass mir recht klar wird, was so Besonderes an dem Schmuckstück sein soll – außer einer überfrachteten Symbolik und dem etwas krampfhaften literarischen Bemühen um ein mit Bedeutung aufgeladenes durchgängiges Motiv.
Sehr geschickt und intelligent dagegen verknüpft Elena Ferrante Giovannas Selbstsuche auf erotischer Ebene mit dem Spannungsfeld zwischen den sozialen Schichten und den Bildungsniveaus, in denen sie sich bewegt. Hier sind wechselseitige Komplexe, Überheblichkeiten und Berührungsängste fein beobachtet.
Unterm Strich bleibt Das lügenhafte Leben der Erwachsenen für mich literarische Unterhaltung auf hohem Niveau, sprachlich sehr ansprechend, psychologisch überzeugend, mit lebendigen, facettenreichen Figuren und dem plastischen Panorama einer Stadtgesellschaft und ihrer Gegensätze. Indem der Roman mir nicht das neapolitanische Familiendrama zu Ende erzählt, das ich mir erwartet habe, sondern sich eher Richtung Tiefenerkundung von Pubertätsnöten abdriftet, verliert er aus meiner Sicht etwas an Spannung, bleibt aber prima Lesestoff.
- Elena Ferrante, Das lügenhafte Leben der Erwachsenen, Suhrkamp, 415 Seiten, 13 Euro.