Umfang klein, Inhalt groß: Das gilt für die Werke der irischen Autorin Claire Keegan. So auch für Das dritte Licht, eine Erzählung aus dem Jahr 2010, die der Steidl-Verlag nun in einer von der Autorin leicht überarbeiteten Fassung neu herausgebracht hat. Anlässe für das Revival dürfen wohl die Oscar-nominierte Verfilmung unter dem Titel The Quiet Girl sowie der Erfolg des aktuellen Keegan-Buchs Kleine Dinge wie diese gewesen sein.
Man ist zuerst geneigt, ein wenig die Stirn zu runzeln, dass der Verlag für die 95 lose und mit breitem Rand bedruckten Seiten von Das dritte Licht, die es schon längst als Taschenbuch gab, noch einmal 20 Euro verlangt. Doch auch wenn die Erzählung Lesestoff für maximal zwei Nachmittage bietet: Die Lektüre hallt lange nach. Die Tiefe und hohe Qualität des Textes rechtfertigen den Kauf allemal.
Bei einem derart kurzen Text könnte eine Rezension Gefahr laufen, schon den gesamten Inhalt nachzuerzählen. Bei Das dritte Licht ist das anders. Die äußerliche Geschichte selbst lässt sich auf wenige Sätze reduzieren, die Geschichten dahinter aber reichen weit darüber hinaus.
Sommer bei einer Pflegefamilie
Irland in den 1980er-Jahren: Die Eltern einer kinderreichen Familie vom Land bringen, als die Mutter erneut schwanger ist, eine ihrer Töchter für den Sommer zu einem verwandten kinderlosen Paar, um für einige Zeit ein Maul weniger zu stopfen, ein Kind weniger zwischen den Füßen herumlaufen zu haben. Das kleine Mädchen lernt bei den Kinsellas, seinen Pflegeeltern auf Zeit, eine ganz andere Welt als zu Hause kennen und vor allem einen völlig anderen menschlichen Umgang.
Die Kinsellas sind zugewandt, feinfühlig, nehmen das Kind als Individuum wahr, geben ihm einen ebenso strukturierten wie liebevollen Alltag. Das Mädchen verändert sich, was Keegan an fast unmerklichen Details spürbar werden lässt. Wenn die Sommerferien vorbei sind und die leiblichen Eltern ihr Kind wieder abholen, wird sich in der Kleinen wohl für immer etwas gewandelt haben.
Claire Keegan erzählt die Geschichte sehr entspannt und lässt sie äußerlich unspektakulär dahinfließen. Es sind nur kleine Sätze und Gesten, die die Dramen hinter dem Alltäglichen durchscheinen lassen. Es ist die große Kunst dieser Autorin, mit dem kürzesten und schlichtesten Dialogfetzten – ihre Figuren sprechen nicht viel – eine ganze Welt zu eröffnen.
„Perfekte Gelegenheit, nichts zu sagen“
„So mancher Mann hat viel verloren, nur weil er eine perfekte Gelegenheit verpasst hat, nichts zu sagen“, sagt Mister Kinsella einmal zu seinem Pflegekind (Seite 70). Das ist nicht nur ein prägnanter Satz voller Weisheit und Finesse. Ein zentrales Zitat ist er auch, weil er das Prinzip von Keegans Erzählweise auf den Punkt bringt. Sie nimmt jede Gelegenheit wahr, nichts zu sagen. Sie vertraut ganz auf das Gespür des Lesers. Das verleiht dem Text eine große Feinheit und Tiefe. In der Erzählung gibt es eine Nachbarin, die laut dahinschwätzend die Dinge gleichzeitig beim Namen nennt und doch in einem Meer von Banalität untergehen lässt. Wie viel mehr trifft da Keegans Erzählstrategie der Auslassungen und Andeutungen ins Herz und um wie viel gerechter wird sie Gefühlen, für die es einfach nicht die richtigen Worte gibt.
Neben den persönlichen Schicksalen ihrer wenigen Figuren entwirft Claire Keegan dabei fast unmerklich ein Soziogramm des ländlichen, armen Irland seiner Zeit. Ohne es auszusprechen, zeigt sie uns ein Land, in dem die katholische Ächtung von Verhütung große, unter materieller Not leidende Familien schafft, in denen sich Kinder ungewollt fühlen, in denen die Armut keinen Platz für individuelle Förderung lässt. Die Autorin kommt mit wenigen Sätzen aus, um uns die geistige Enge und strenge soziale Kontrolle eines irischen Dorfs spüren zu lassen.
Für das Mädchen – sie erzählt die Geschichte in Ich-Form aus einer offenbar späteren Perspektive – wird der Sommer bei den Kinsellas vielleicht ein erster Schritt der Befreiung aus den Zwängen dieses Umfelds sein. „Ich liege mit der Wärmflasche da, lausche auf den Regen und lese meine Bücher, kann dem, was geschieht, besser folgen und mir jedes Mal ein anderes Ende ausdenken“ (Seite 86). Das ist einer der vielen Sätze in Das dritte Licht, die lapidar daherkommen, über die man leicht hinweglesen könnte und die doch bei genauerem Hinsehen Horizonte eröffnen. Im Haus der Kinsellas hat das Mädchen die Literatur für sich erschlossen. Sie ist nicht nur im Stande, sich für die Geschichten in den Büchern ein neues Ende auszudenken, sondern dank des Lesens vermutlich auch für das eigene Leben – jenseits der vorgegebenen Pfade ihres Milieus.
- Claire Keegan, Das dritte Licht, Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser, Steidl, 104 Seiten, 20 Euro.
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