Soso, da glaubt also einer, er hätte Schiller noch etwas hinzuzufügen… Man mag es vermessen nennen oder mutig, dass der aus der Schweiz stammende, heute in Island lebende Autor Joachim B. Schmidt eine Neuerzählung der Geschichte von Wilhelm Tell in Angriff genommen hat. Er tut dies unter dem schlichten Titel Tell auf eine sehr rasante, spannend zu lesende Weise und macht dabei aus dem mittelalterlichen Schweizer Nationalhelden eine ambivalente Figur, die dem heutigen Leser sehr nahe ist. Für mich unbeantwortet bleibt die Frage, wozu genau es im Jahr 2022 eine weitere literarische Bearbeitung dieses klassischen Stoffs gebraucht hat.
Die Geschichte vom Apfelschuss
Die Grundzüge der Legende von Wilhelm Tell bilden auch bei Joachim B. Schmidt das Gerüst der Handlung. Wir befinden uns in der Zentralschweiz, die Anfang des 14. Jahrhunderts unter österreichischer Herrschaft steht. Der Bergbauer Wilhelm Tell versäumt es bei einem Besuch in Altdorf, einen auf dem Marktplatz symbolisch für die Habsburger-Macht auf einer Stange angebrachten Hut zu grüßen. Der Landvogt Gessler als örtlicher Vertreter der kaiserlichen Macht erlegt Tell die Strafe auf, dem eigenen Sohn mit der Armbrust einen Apfel vom Kopf zu schießen. Dem Bergbauern gelingt dieses hochriskante Kunststück. Danach fällt auf, dass Tell in seinem Gewand einen zweiten Armbrustbolzen versteckt hat. Als Gessler fragt, wozu, erklärt Tell, dass er damit im Fall, dass er den Sohn getroffen hätte, als nächstes den Landvogt getötet hätte.
Daraufhin lässt Gessler den Bauern abführen und befiehlt, ihn in den Kerker nach Küssnacht zu bringen. Auf dem Weg dorthin gerät das Boot, auf dem Soldaten den Gefangenen Tell transportieren, auf dem Vierwaldstätter See in Not – bei Schiller in einen Sturm, bei Schmidt liegt’s eher am Alkoholkonsum der rudernden Soldaten. Jedenfalls kann Tell im Zuge dessen entkommen. Bald darauf lauert er dem Landvogt in einem Hinterhalt in der sprichwörtlich gewordenen „hohlen Gasse“ in den Bergen auf und bringt ihn um.
So weit, so bekannt – auch wenn ich persönlich die Details der Geschichte gerade nicht im Kopf hatte. Insofern war die Lektüre von Schmidts Tell für mich schon mal ein sehr niederschwelliger und äußerst unterhaltsamer Zugang, um eine Bildungslücke zu schließen. Diese moderne Version hat Thriller-Qualitäten und liest sich sicherlich deutlich leichter Weg als Schillers Drama von 1804.
20 Figuren erzählen aus ihrer Perspektive
Joachim B. Schmidt tritt nämlich erzählerisch ganz schön auf die Tube, zieht den Leser von der ersten Seite an in Bann und hält die Spannung durchgängig bis zum Schluss. Durchschnaufen ist nicht. Erzähltechnisch ist sein großer Kniff der schnelle Wechsel der Perspektiven. Er schreibt das Geschehen mit den Stimmen von insgesamt 20 Figuren auf, die in jeweils kurzen Abschnitten in Ich-Form im Präsens sprechen. Das erzeugt eine große Unmittelbarkeit. Der Leser fühlt sich mittendrin im Geschehen. Die Ereignisse und auch das Denken und Fühlen aller beteiligten Personen rücken aus dem Jahr 1307 ganz nah heran.
Von diversen habsburgischen Soldaten über Tells Familie, die Hauptgegenspieler Tell und Gessler bis hin zu mehr oder minder unbeteiligten Bergbauern: Sie alle stehen vor dem Auge des Lesers als Menschen, die in ihrem Denken, Fühlen und Sprechen zeitgenössisch erscheinen. Mit kurzen, einfachen, umgangssprachlichen Sätzen macht es Joachim B. Schmidt dem Leser leicht – vielleicht in bewusstem Kontrast zu Schillers gehobenem, pathetischen Stil. Ob es dabei allerdings legitim ist, Figuren aus dem Mittelalter moderne Ausdrücke wie „sich den Arsch aufreißen“ oder als Schimpfwörter „Weicheier“ oder „Welpenstreichler“ benutzen zu lassen? Mir kam das nicht stimmig vor. Man kann es Schmidt aber auch als bewussten, vielleicht ironischen Stilbruch durchgehen lassen.
Die karge, ärmliche Lebenswelt in den Schweizer Alpen macht Schmidt überaus plastisch. Inhaltlich modernisiert Schmidt den Stoff und fügt einiges hinzu. Gerade Tell und Gessler macht er zu differenzierten, vielschichtigen Charakteren. Wilhelm Tell ist bei Schmidt eine interessante, widersprüchliche Figur, äußerlich spröde und schroff, innerlich mit vielen seelischen Brüchen. Schmidt bürdet ihm Schuldgefühle am Tod eines hinzuerfundenen Bruders auf, außerdem trägt Wilhelm in dieser Version daran, dass er als Kind vom örtlichen Pfarrer missbraucht wurde.
Missbrauchs-Thematik dazugedichtet
Na klar, das gab es auch im Spätmittelalter, und doch sind Missbrauch in der Kirche sowie Bruderkomplexe Themen, die Schmidt aus sehr modernen Debatten und heutigem psychologischen Denken ins Jahr 1307 verpflanzt. Das kann man machen. Aber vor allem das Missbrauchsthema authentisch im Zusammenhang einer mittelalterlichen Welt darzustellen, halte ich für ein zu großes Thema, als dass ihm der Roman in seinem hohen Tempo gerecht werden könnte. So bleibt es ein wenig im Klischee stecken. Das hätte ich weggelassen, zumal es die Geschichte aus meiner Sicht überfrachtet.
Gelungen und berührend fand ich dagegen die Pointe, dass Walter in Schmidts Roman nicht der leibliche Sohn Wilhelm Tells, sondern der seines verstorbenen Bruders Peter ist – und dass dies nichts an Wilhelm Tells väterlicher Liebe ändert, derer er sich im Moment der Todesgefahr beim Apfelschuss voll bewusst wird.
Prinzipiell handelt es sich beim Tell-Stoff um ein Thema, das stark zur politischen Interpretation einlädt. Die Legende ist immerhin ein Grundpfeiler des nationalen eidgenössischen Selbstverständnisses. Die Geschichte steht für die Auflehnung des einfachen Volkes gegen eine unterdrückerische Macht von außen. Bei Schiller symbolisiert Wilhelm Tell das Streben nach Freiheit. Max Frisch hat den Nationalmythos 1970 in Wilhelm Tell für die Schule entzaubert, die Missbrauchsanfälligkeit eines überhöhten Freiheitsbegriffs bloßgelegt und der Sage eine rationale historische Interpretation entgegengestellt.
Ob und wo sich Joachim B. Schmidt in diesem Spektrum einordnen würde, bleibt dahingestellt. Ich glaube nicht, dass er seinen modernen Tell als identitätsstiftend für die heutige Schweiz angelegt hat. Er holt eher den vermeintlichen Helden auf den Boden zurück und macht aus ihm einen ganz normalen Menschen, der weniger aus hehren Prinzipien denn aus humanen Reflexen heraus und vor seinem individuellen Hintergrund zum Aufständischen gegen eine als willkürlich und ungerecht empfundene Obrigkeit handelt. Möglich auch, dass der Autor hier einfach nur dem kulturellen Schatz dieses Epos‘ huldigt und sich und uns daran erfreut, diesen starken Stoff am Leben zu halten und mit den besten erzählerischen Mitteln dem heutigen Leser plausibel zu machen.
- Joachim B. Schmidt, Tell, Diogenes, 288 Seiten, 23 Euro.