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Tiefe, Wucht, Unausweichlichkeit, Grausamkeit, Faszination und Gebanntsein: In dieses Spektrum begibt sich, wer in Chigozie Obiomas Roman Der dunkle Fluss eintaucht. Die fesselnde Geschichte, die der 1986 in Nigeria geborene Autor erzählt, hat etwas von der Kraft und Düsternis eines Dostojewski, einer griechischen Tragödie oder des Alten Testaments. Und auch wenn man nicht gleich ganz so hoch greifen möchte, bleibt dieses Debüt, zuerst veröffentlicht 2015 in den USA unter dem Originaltitel The Fishermen, doch ein starkes, eindrucksvolles Stück Literatur, das in Erinnerung bleibt.

Die Geschichte von vier Brüdern

Vom Inhalt möchte ich an dieser Stelle nicht allzu viel wiedergeben. Der Leser sollte sich darauf einlassen, sich in den dunklen Fluss der Geschichte zu begeben und treiben zu lassen, ohne zu wissen, was auf ihn zukommt. Dass über dem noch halbwegs harmlosen Anfang mit seinen lichten, heiteren Momenten schon die Düsternis kommender Ereignisse schwebt, ist von Beginn an zu spüren.

Im Mittelpunkt stehen vier Brüder im Alter zwischen etwa 15 und 9 Jahren, deren jüngster, Ben, der Ich-Erzähler ist. Gemeinsam mit noch zwei weiteren Geschwistern im Kleinkind- beziehungsweise Babyalter wachsen sie in den 1990er-Jahren in der südwestnigerianischen Stadt Akure auf. Als der Vater einen Posten bei der Zentralbank im weit entfernten Yola antritt, bleibt die Mutter, eine Markthändlerin, als praktisch Alleinerziehende mit sechs Kindern zurück. Um die Schar der Burschen im Zaun zu halten, hat sie als Erziehungsmethode nicht viel mehr in der Hand, als anzudrohen, dem Vater bei dessen Wochenend-Besuchen von den Missetaten der Söhne zu berichten.

Die dann drohenden drakonischen Strafen halten die vier Buben Ikenna, Boja, Obembe und Ben aber nicht davon ab, sich in eigentlich unschuldiger Abenteuerlust und Spielfreude über das strikte Verbot hinwegzusetzen, sich dem Fluss Omi-Ala zu nähern. Der gilt – wohl halb auf Aberglaube, halb auf rationale Erwägungen gestützt – als verbotener, gefährlicher Ort. Für die Jungs und ihre Freunde ist das Ufer aber zunächst ein Idyll, in dem sie sich unbeschwert und fantasievoll als Fischer ausprobieren.

Schicksal nimmt unabwendbar seinen Lauf

Die anfangs harmlos wirkende Übertretung wird auf ungeahnte Weise zum Ausgangspunkt einer Tragödie, die alle Familienmitglieder erfasst und die hohen Hoffnungen, die der Vater einst für seine Söhne hatte, zerschellen lässt.

Die Erzählung, wie alles unabwendbar seinen Lauf nimmt, übt auf den Leser einen starken Sog aus. Obioma führt eine Geschichte, die man kaum für möglich gehalten hätte, mit einer unbezwingbaren inneren Logik auf immer neue Wendungen zu und baut mit geschicktem Ver- und Enthüllen meisterhaft Spannung auf. Der Roman lässt einen beim Lesen von Anfang bis Ende nicht los.

Obiomas Sprache ist dabei suggestiv und poetisch, gleichzeitig aber klar und unprätentiös. Das Stilmittel, jedes Kapitel unter die Überschrift einer Tiermetapher zu stellen, die meist auf einen der Charaktere angewandt wird, wirkt nicht etwa aufdringlich, sondern ist so stimmig angewandt, das es Emotionen und Atmosphäre aufbaut. Zudem wirken die Bilder vor dem Hintergrund der Tierliebe des Ich-Erzählers logisch eingebaut.

Feinfühlig und ergreifend zeichnet der Autor seine Charaktere, entwickelt ein austariertes Gefüge innerhalb der Familie, porträtiert vor allem sensibel die Beziehungen, die Verbundenheit, aber auch Konkurrenz zwischen älteren und jüngeren Brüdern. Obioma wechselt wirkungsvoll zwischen Düsternis und Brutalität auf der einen und zarten Momenten der Unschuld auf der anderen Seite und lässt den Leser so den Verlust der Kindheit nachfühlen.

Mehr als nur ein Afrika-Roman

Die Geschichte steht perfekt für sich selbst, lädt in ihrem klassischen Zuschnitt und ihrer Zeitlosigkeit aber auch zur Interpretation als Parabel ein. Die Verlagswerbung verkauft den Roman als Sinnbild für die Geschichte Nigerias. Nun ja, so eindeutig sehe ich das nicht. Es ist vielleicht eher eine (chauvinistische?) Erwartungshaltung aus westlicher Perspektive, dass Bücher aus Afrika uns doch bitte das ganze Elend des Kontinents präsentieren und das Fremde erklären mögen. Von Diktaturen, Elend und Korruption sollen sie uns bitteschön berichten.

Das tut Der dunkle Fluss nicht. Der Roman stellt zwar durchaus Bezüge zur nigerianischen Politik zur Zeit der Militärdiktatur unter Sani Abacha her, verwendet diesen historischen Hintergrund aber mit dezenter Selbstverständlichkeit.

Ebenfalls irritierend finde ich den in deutschen Kritiken geäußerten Vorwurf, der Autor betreibe hier eine Selbstexotisierung Afrikas, die sie wohl in dem mythischen Anklängen der Geschichte erkennen wollen. Tatsächlich hat die Handlung aber per se gar nichts Exotisch-Übersinnliches an sich. Abgesehen davon, dass die Geschichte in einem konkreten geografischen und zeitlichen Setting angesiedelt ist, ist sie nicht spezifisch afrikanisch, sondern hat viel mehr allgemeingültig Menschliches an sich.

Will man dem Dunklen Fluss eine symbolische Bedeutung zuschreiben, dann steht der Roman vielleicht dafür, mit welcher destruktiven Macht Gewalt – und auch das Schicksal – in das menschliche Miteinander eindringen und Utopien zerstören können. Das allein auf den Staat Nigeria zu begrenzen, wäre zu eng gedacht. Selbstverständlich kann uns eine Geschichte, die in Akure spielt und aus der Feder eines aus Nigeria stammenden Autors stammt, viel über uns selbst und unsere eigene Gesellschaft erzählen. Und das tut Der dunkle Fluss auf sehr eindringliche, intensive Weise.

  • Chigozie Obioma, Der dunkle Fluss, Aufbau Taschenbuch, 313 Seiten, 11 Euro.

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