Statt Eine moderne Familie hätte die norwegische Autorin Helga Flatland (geb. 1984) ihren fünften Roman auch Eine normale Familie nennen können. Denn es sind durchaus alltägliche und durchschnittliche Abhängigkeiten, Rollenbilder und emotionale Verstrickungen innerhalb einer Gemeinschaft von Vater, Mutter und ihren drei erwachsenen Kindern, die Flatland hier analysiert. Sie tut das auf kluge, aber für meinen Geschmack allzu kühle Art. Leider muss ich sagen, dass ich mich für das Buch insgesamt nicht recht erwärmen konnte.
Um innerhalb der gezeichneten Normalität eine Romanhandlung in Gang zu bringen, wählt Flatland einen Ausgangspunkt, der neugierig macht: Bei der Feier des 70. Geburtstags von Vater Sverre – die ganze Familie verbringt aus diesem Anlass gemeinsam ein paar Urlaubstage in Italien – überraschen die Eltern ihre Kinder mit der Mitteilung, dass sie sich scheiden lassen. Mutter Torril kommentiert dies mit den Worten: „Aber es hört sich dramatischer an, als es ist“ (Seite 61) – was sich auf den darauf noch folgenden rund 250 Seiten bestätigt. Denn „Dramatik“ ist so ziemlich das letzte, was Autorin Flatland im Sinn hat, wenn sie daraufhin aufdröselt: Obwohl sie doch alle selbst ihr eigenständiges Leben haben, erleben auch erwachsene „Scheidungskinder“ diesen Einschnitt als Erschütterung.
Drei erwachsene Scheidungskinder
Der Roman ist klar strukturiert in fünf Kapitel, jeweils mit einem der Geschwister als Ich-Erzähler. Zunächst wechseln sich dabei die Älteste, Liv, und „Sandwich-Kind“ Ellen ab, bevor im letzten Abschnitt Nesthäkchen Håkon zu Wort kommt.
Ebenso unzweideutig wie die Gliederung des Romans ist die Rollenaufteilung. Livs Selbstverständnis ist davon geprägt, dass sie sich immer für alle und alles verantwortlich fühlt, auch für Zusammenhalt und Harmonie in der Familie. Für sie bricht mit der Scheidung der Eltern ein Stück Struktur und Orientierung weg. Als zweifache Mutter hat sie ihr eigenes Familienleben teils nach dem Vorbild, teils als Gegenbild ihrer Eltern gestaltet. Und nun: „Mit einem Achselzucken reißen sie alles ein, worauf ich mein eigenes Leben gebaut habe.“
Die toughe und unverblümte Ellen ist beruflich erfolgreich als Rhetorik-Beraterin für Politiker. Als sie auf die 40 zugeht, dominiert immer stärker ein unerfüllter Kinderwunsch ihr Denken und Handeln sowie ihre Partnerschaft. Das Zerbrechen ihrer Herkunftsfamilie impliziert für sie nun die Überlegung: „Was, wenn ich nie Kinder bekommen kann? (…) Dann habe ich keine Familie außer dieser.“
Der sensible Håkon, als noch dazu herzkranker Nachzügler immer schon von den Eltern mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht, fühlt sich unterdessen in seiner Theorie von der Überholtheit und Widernatürlichkeit lebenslanger Monogamie bestätigt – oder tut zumindest so.
Durchschnittsmenschen mit Durchschnittskrisen
Die Stärke des Romans sind die treffenden Beobachtungen, in der sicher sehr viele Leser*innen ihre Beziehung zu Eltern und Geschwistern wiedererkennen. Es ist schon sehr präzise, wie Helga Flatland Lebens- und Gedankenwelten ihrer Figuren beschreibt, die allesamt mitten aus dem Leben gegriffen sind: aus dem sozialen Mittelstand, aus der Lebensmitte, aus einer Wohlstandgesellschaft Mitteleuropas (okay, geografisch etwas weiter im Norden, aber beispielsweise der deutschen Gesellschaft kulturell sehr nahe). Wir sehen hier ausnahmslos Durchschnittsmenschen mit ihren Durchschnittskrisen. Uns zwar in einem Grad von psychologischer Selbstbespiegelung, die wahrscheinlich nur dort möglich ist, wo die materielle Sicherheit und der Mangel an besonderen Abgründen den nötigen Raum – oder ist es eine Leere? – dafür eröffnen.
Klar, es ist völlig legitim, eine solche Normalität, tatsächlich Eine moderne Familie, als literarisches Sujet in den Blick zu nehmen. Aber ein bisschen fad ist es leider auch, nur gespiegelt zu bekommen, was man aus dem eigenen sozialen Umfeld bestens kennt. Mag sein, der triviale Alltag wird in der Literatur zu häufig ausgeklammert. Hier erhält er Raum. Doch fühle ich mich schon sehr auf den Boden der Tatsachen zurückgeworfen, wenn ich zum Beispiel von einem Streit über eine falsch befüllte Waschmaschine lese – ohne dass mir darüber hinaus eine weitere Bedeutungsebene dieses Konflikts klar würde.
Schmucklos, klar und allzu nüchtern
Gesteigert wird dieser Eindruck durch den absolut schmucklosen, auf Klarheit ausgerichteten Stil der Autorin. Der Text wirkt sehr analytisch. Auf der Strecke bleibt jede Form von Poesie. Ich glaube, der ganze Roman enthält keine einzige Metapher. Es gibt keine Beschreibung einer Landschaft, eines Gesichts, eines Raums. Keine Mehrdeutigkeit, keine Ironie, nichts, das ungesagt bliebe. Es ist offenbar eine bewusste Entscheidung der Autorin, den Text zu entschlacken. Eine moderne Familie ist fast im Duktus einer familientherapeutischen Fallanalyse geschrieben, nahe am Sachbuch.
Von den Mitteln, die darüber hinaus der Literatur als Kunstform zur Verfügung stehen, macht Helga Flatland wenig Gebrauch. Einen Ansatz von Kunstwillen habe ich lediglich im Gegeneinanderschneiden der Erzählperspektiven gesehen. Die Szene des Geburtstagsdinners mit der Trennungseröffnung wie auch eine Kindheitserinnerung, in der Ellen einen Topf mit Krabben umstößt, wiederholen sich, mehr oder weniger variiert, aus Sicht der verschiedenen Geschwister. Aus diesem stilistischen Mittel hätte sich sicher noch mehr herausholen lassen, hätte es Flatland etwas weniger sparsam eingesetzt.
Die emotionale Reduziertheit des Textes aber hat für mich die Lektüre trocken gemacht. Einmal essen die Figuren im Roman ein „paprikaloses Curry“ (Seite 265). Dieses Gericht beschreibt bildlich gesprochen auch den Roman. Mir fehlte die Würze. Eine weitere Analogie zu den Produkten eines skandinavischen Möbelhauses läge auf der Straße. Ich würde es so sagen: Das Buch entspricht einem nüchtern, praktisch und mit klaren Linien eingerichteten Haus, in dem ich mich nicht wirklich wohlgefühlt habe.
- Helga Flatland, Eine moderne Familie, Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger, Weidle, 308 Seiten, 25 Euro.
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