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Was Hunger wirklich bedeutet, haben in unseren Gefilden wohl nur wenige heute lebende Menschen am eigenen Leib erfahren. Doch gerade die aktuellen schrecklichen Nachrichten von Menschen im Gaza-Streifen, die Gras und Staub essen sollen, machen einmal mehr deutlich, dass das Phänomen leider nicht aus unserer Welt verschwunden ist. Es besteht also weiter aller Grund, sich mit dem Thema Hunger auseinanderzusetzen und sich klar zu machen, dass auch heute reiche Länder vor nicht allzu langer Zeit davon betroffen waren. Einen sehr eindringlichen und literarisch bahnbrechenden Ansatz dazu bietet der Roman Hunger des späteren Nobelpreisträgers Knut Hamsun aus Norwegen.

Problematischer Autor, großartiger Text

Einer Besprechung eines Romans von Knut Hamsun (1859-1952) müssen einige Anmerkungen über den biografisch höchst problematischen Autor vorangestellt werden. Seine widerliche Verehrung der Nazis lässt keinen Raum für Entschuldigungen. Hamsun rief die Norweger nach der Besetzung des Landes durch die Deutschen auf, den Widerstand aufzugeben und die aus seiner Sicht willkommenen neuen Herrscher zu begrüßen. Die Nobelpreismedaille, die Hamsun 1920 verliehen bekommen hatte, verschenkte er während des Zweiten Weltkriegs an Joseph Goebbels. 1943 kam es zu einem persönlichen Treffen des Literaten mit Adolf Hitler, auf den Hamsun später einen glühenden Nachruf schrieb. Als reine Alterssünde eines über 80-jährigen Greisen lässt sich all das nicht abtun.

Ich finde es daher angemessen, das Werk Knut Hamsuns mit geschärftem, durchaus misstrauischem Blick zu lesen und aufmerksam zu bleiben für mögliche Hinweise auf seine späteren ideologischen Abwege. In Hunger, geschrieben 1890, habe ich persönlich aber keine Spuren nationalsozialistischen Gedankenguts gefunden, weshalb ich keinen Grund sehe, sich um den Genuss an diesem düster glänzenden Meisterwerk zu bringen.

Es war in jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verläßt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist.

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Mit diesen suggestiven Anfangsworten setzt Knut Hamsun den Ton seiner Erzählung und zieht den Leser von Beginn an in Bann. Das Phänomen Hunger beschreibt er darin nicht unbedingt in einem konkreten historisch-soziologischen Kontext der norwegischen Hauptstadt – heute heißt Kristiania Oslo -, sondern radikal subjektiv auf der Ebene des Individuums.

Zu viele Sinneseindrücke

Bei dem namenlosen Ich-Erzähler handelt es sich um einen jungen, im wahrsten Sinne brotlosen Journalisten. Seine Texte – offenbar handelt es sich um philosophische Essays – bringt er bei den Zeitungsredaktionen der Stadt nur höchst sporadisch an den Mann, obwohl ihm hie und da Talent beschieden wird. Um noch irgend über die Runden zu kommen, hat er bereits sein komplettes Hab und Gut ins Pfandhaus getragen. Nun bleibt praktisch nichts mehr übrig, was sich irgendwie noch zu ein paar Kronen oder Öre machen ließe. Es reicht nicht einmal mehr fürs Nötigste. Er kann sich nichts zu essen kaufen, er hungert.

Der Protagonist streift die meiste Zeit des Tages durch die Stadt, versucht, im Park ein ruhiges Plätzchen zu ergattern, um ein paar Zeilen zu Papier zu bringen. Doch allzu leicht lässt er sich von allerlei Wahrnehmungen aus dem Konzept bringen. Jedes Detail, jedes Geräusch, jeder Sinneseindruck der Stadt findet Eingang in sein Bewusstsein – und sei es nur, dass er eindringlich die eigenen Schuhspitzen begutachtet. Dann wieder hat der den Bleistift zu Hause vergessen – ein leerer Magen ist offenbar nicht gerade konzentrationsfördernd.

Der Roman begleitet seinen Protagonisten durch immer neue Episoden der Demütigung, die die Armut mit sich bringt. Bemerkenswert ist, wie er sich dabei regelmäßig selbst im Weg steht. Kaum spielt ihm das Leben ein paar Münzen in die Hand, hat er nichts Besseres zu tun als sie wiederum einer Bettlerin zu geben, um die eigene Bedürftigkeit zu kaschieren. Als er einmal im Kramerladen irrtümlich Wechselgeld herausbekommt, tut er alles, um von diesem vermeintlichen Betrug nicht zu profitieren, und konfrontiert lieber in einer peinlichen Szene den Ladenangestellten mit dem Fehler.

Ringen um den letzten Rest Würde

Sind es falscher Stolz, Eitelkeit, toxische Männlichkeit, die den Ich-Erzähler davon abhalten, jegliche Hilfe anzunehmen? Man möchte ihn des Öfteren an den Schultern packen und schütteln, damit er mal eine der wenigen Chancen ergreift, die sich ihm bieten, und sich endlich am eigenen Schopf aus dem Elend zieht.

Letztlich fand ich es aber sehr nachvollziehbar und schmerzhaft erschütternd mitzuerleben, wie hier ein Mensch angesichts des materiellen Nichts um seinen letzten Rest Würde ringt. Der Ich-Erzähler will einen fadenscheinigen Anschein nach außen aufrecht erhalten, leidet lieber weiter Hunger als das letzte herzugeben, was er noch besitzt: ein klein wenig Selbstachtung, Moral und Anstand. Was aber nichts daran ändert, ja sogar unmittelbar dazu beiträgt, dass er immer tiefer sinkt.

Stilistisch besteht die Besonderheit des Romans in der radikalen Konzentration auf die Perspektive der Hauptfigur. Dafür wendet Hamsun Erzähltechniken an, die zur Zeit des Erscheinens von Hunger hoch innovativ und im Nachhinein betrachtet literaturgeschichtlich bahnbrechend waren. Die Gedankenströme und Wahrnehmungen des Ich-Erzählers sind teils verzerrend, verlieren sich mitunter in wahnartigen Zuständen oder zumindest abstrusen Gedankenschleifen. In seiner absolut subjektiven Wahrnehmung der Welt kann ein aus dem Augenwinkel beobachtetes Detail in den Mittelpunkt rücken. Sekunden verwandeln sich in kleine Ewigkeiten. Erzähltechnisch gesprochen: Die Erzählzeit dehnt sich über das Maß der erzählten Zeit aus. Immer wieder wechselt der Tempus unvermittelt vom Imperfekt ins Präsens, was seine erlebte Sicht für den Leser noch unmittelbarer macht.

Vorläufer des Bewusstseinsstroms

Der Roman bewegt sich damit streckenweise in Richtung der Technik des Bewusstseinsstroms, wie sie später Virginia Woolf (Mrs Dalloway) oder James Joyce (Ulysses) zu noch extremeren Ausprägungen führen sollten. Oft wird Hunger deswegen auch als Meilenstein auf dem Weg der Literatur weg vom realistischen Erzählen hin zu subjektiveren, psychologischen Arten der Wiedergabe der Welt beschrieben, also hin zur Moderne.

Dazu kommt eine expressionistische Bildsprache mit Mut zur Hässlichkeit an der Grenze zur Groteske, gipfelnd etwa in einer Szene, in der der Ich-Erzähler verzweifelt blutige Reste von Fleischfitzelchen von einem Knochen zu nagen versucht, Metzgerei-Abfall, den er ergattert hat.

Abseits von einer schonungslosen Erkundung der Psyche eines Menschen in einer Extremsituation lässt sich Hunger aber mit Sicherheit auch sinnbildlich lesen.

Es ist nicht nur der rein körperliche Hunger, der den Protagonisten umtreibt und den die ihn umgebende Gesellschaft nicht stillen kann. Für mich sucht er eine Art von Reinheit, von geistig Höherem, das ihm eine moderne, urbane, sehr profane, materialistisch ausgerichtete Welt nicht bieten kann. Stattdessen verurteilen ihn seine Ideale zum tiefen materiellen Fall und zum Außenseitertum. Die Rezeption hat in ihm deswegen auch einen literarischen Verwandten von Dostojewskis Idiot gesehen.

Ein Text, der an die Nieren geht

Für mich war die Lektüre von Hunger eine sehr intensive, ergreifende Leseerfahrung mit großem psychologischen Tiefgang. Es ist ein Text, der an die Nieren geht, der oft widerborstig ist und weh tut und gleichzeitig fasziniert. Mit seiner Erzählweise dringt der Roman tief in die Psyche eines Menschen in seiner ganzen Ambiguität und Widersprüchlichkeit vor und rückt einen scheiternden Anti-Helden, der ganz am Rande steht, ins Zentrum. Genau das hat mich sehr in Beschlag genommen und nicht losgelassen.

Hamsuns Ich-Erzähler ist eine zeitlose Figur der Weltliteratur, dessen Scheitern an sich selbst, aber auch an einem ausgrenzenden Gesellschaftssystem weiter aktuell ist. Frust und Wut, die daraus resultieren, können eine Erklärung – wenn auch keine Entschuldigung – für die Anfälligkeit für radikale und populistische politische Antworten sein. Vielleicht ist hier doch schon ein kleiner Keim für Hamsuns eigene spätere Verirrungen im Text versteckt. Doch wie gesagt: Der Roman ist viel zu komplex und mehrdimensional, um missbrauchsanfällig für jedwede Ideologie zu sein. Er lässt viele Richtungen des Weiterdenkens zu.

Zum Schluss sei noch erwähnt, dass ich Hunger in der altbewährten Übersetzung von Julius Sandmeier gelesen habe, die mir auch völlig stimmig und kein bisschen verstaubt vorkam. Im Manesse-Verlag liegt seit 2023 aber auch eine Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg vor, basierend auf der Originalausgabe von 1890 – also bevor Hamsun einige als zu blasphemisch oder erotisch empfundene Passagen strich. Diese Ausgabe hat für Kenner bestimmt einen Mehrwert, schien mir für meine – zugegeben – erste Begegnung mit dem Autor Knut Hamsun aber nicht unbedingt nötig.

  • Knut Hamsun, Hunger, aus dem Norwegischen von Julius Sandmeier, hier als E-Book-Ausgabe des Herausgebers e-artnow, 1,99 Euro.

Ein Kommentar zu “Knut Hamsun, Hunger

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