Horacio Quiroga ist ein Klassiker. Einige Motive aus seinen Erzählungen haben sich fest in das kollektive Bewusstsein eingebrannt. Seine Werke waren ein literaturgeschichtlicher Meilenstein, sie wirken im Schaffen vieler großer Autoren fort bis heute. All das sind für Literaturinteressierte in Lateinamerika ganz selbstverständliche Feststellungen.
Wie aber kann es sein, dass ein so großer Schriftsteller hierzulande weitgehend unbekannt ist? Das spricht Bände über den oft sehr verengten, eurozentristischen Blick auf die Kultur, der bei uns leider vorherrscht. Also, auf: Solange der seit 2010 vorliegende Band Die Wildnis des Lebens mit den wichtigsten Erzählungen von Horacio Quiroga in deutscher Übersetzung noch erhältlich ist, sollte man die Chance nutzen, diese bedeutende Stimme der Weltliteratur zu entdecken.
Tragik überschattet Quirogas Leben
Um den Autor zunächst einmal kurz vorzustellen: Quiroga wurde 1878 im uruguayischen Salto als Sohn des argentinischen Konsuls geboren – weshalb ihn beide Nachbarländer als Vertreter ihrer jeweiligen Nationalliteratur für sich reklamieren. Nach Kindheit und Jugend in Uruguay lebte und schrieb Quiroga aber in Argentinien.
Tod und Schicksalsschläge überschatteten sein Dasein von Beginn an – angefangen damit, dass sein Vater bei einem Jagdunfall starb, als Horacio wenige Monate alt war. Später erschoss sich sein Stiefvater, der nach einem Hirnschlag fast vollständig gelähmt war. Den Abzug des Gewehrs betätigte er mit den Zehen. Als junger Mann erschoss Horacio Quiroga versehentlich seinen besten Freund. Er sollte ihn zu einem Duell begleiteten, und als Horacio ihm die Waffe erklärte, löste sich ein Schuss. Horacio Quiroga starb 1937 – man möchte fast sagen: wie sollte es anders sein? – durch Suizid, nachdem er eine Krebsdiagnose erhalten hatte.
Neben dieser Reihe morbider Ereignisse prägte das Spannungsfeld von Kultur und Natur Quirogas Biografie. Von den Intellektuellenkreisen, die er während eines Paris-Aufenthaltes kennengelernt hatte, wandte er sich enttäuscht ab. Stattdessen ließ er sich von der Wildnis der subtropischen Region Misiones in Nord-Argentinien faszinieren, wo er viele Jahre unter teils abenteuerlichen Bedingungen lebte.
Geschichten von Liebe Irrsinn und Tod
All dies spiegelt sich in unterschiedlichen Facetten in Quirogas Erzählungen wieder. Die bekanntesten, wichtigsten und für mich auch faszinierendsten sind dabei die aus dem Band Cuentos de amor de locura y de muerte (Geschichten von Liebe Irrsinn und Tod, Titel bewusst ohne Kommas geschrieben) von 1917, von denen im vorliegenden Band zehn enthalten sind.
Hier schleicht sich immer wieder der Horror auf leisen Sohlen in den Alltag der Figuren ein. In dieser Hinsicht ragt „Das Federkissen“ („El almohadón de plumas“) heraus. Auf gerade einmal fünf Seiten liefert die Geschichte nachhaltig Stoff für Albträume. Eine junge Frau in der Blüte ihres Lebens erkrankt auf rätselhafte Weise, siecht dahin, ohne dass es eine Erklärung gäbe – bis nach ihrem Tod in ihrem Kopfkissen ein Parasit gefunden wird, der ihr, während sie schlief, die Lebensgeister ausgesaugt hat. Dass Quiroga dies sehr lakonisch und sachlich referiert, steigert den Schrecken.
Er beschreitet virtuos einen schmalen Grat zwischen Realismus und Fantastik, womit er einerseits an sein Vorbild Edgar Allen Poe anknüpft und sich als erzählerisch verwandt mit seinem Zeitgenossen Franz Kafka erweist, andererseits auch den Weg bahnt in Richtung der großen lateinamerikanischen Erzähler von Julio Cortázar bis hin zu den Vertretern des Magischen Realismus, wie Gabriel García Márquez.
Tierfabeln und Portraits markiger Männer
Doch längst nicht nur das Übersinnliche stellt bei Quiroga eine vitale Bedrohung für das menschliche Dasein dar. Immer wieder zeichnet er seine Figuren im verzweifelten, oft aussichtslosen Kampf mit einer übermächtigen Natur. Eindrucksvoll ist es etwa zu lesen, wie sich in „In der Strömung“ ein Mann nach einem Schlangenbiss auf der Suche nach Hilfe auf sein Kanu begibt und den wilden Fluss Paraná hinunterfährt, während das Gift unbarmherzig seine Wirkung zeitigt.
Mensch gegen Schlange: Das ist auch die Konfrontation, um die es in dem längeren Stück „Anaconda“ geht. Wissenschaftler richten eine Forschungsstation im Dschungel ein und fangen Schlangen, um aus deren Gift Medikamente zu gewinnen. Es entbrennt ein regelrechter Krieg, für den sich die Kriechtiere gegen die Eindringlinge zusammenschließen. Quiroga erzählt die Geschichte aus der Perspektive der Schlangen, denen er menschliche Züge zuweist und die er sprechen lässt. Es ist eine von mehreren Tierfabeln, die in dem Band enthalten sind, und erinnert klar an das Vorbild Rudyard Kipling – aber mit deutlicher Schlagseite ins Düstere.
In einer anderen Kategorie von Erzählungen konzentriert sich Quiroga auf das Portraitieren kantiger Charaktere aus der rauen Umwelt der Provinz Misiones. Die ausgiebigen Charakterstudien dieser markigen Männer, die entweder den Widernissen einer feindseligen Umwelt standhalten oder daran scheitern, sind dann oft auf den letzten Seiten noch mit einer kleinen morbiden Pointe versehen.
Da ist etwa der skandinavische Arzt Dr. Else, den das lebensfeindliche tropische Klima zum Alkoholiker gemacht hat. Über den Versuch, Schnaps aus Orangen zu destillieren, gerät er in ein Delirium, in dem er seine Tochter als Ratte halluziniert und erschlägt. Auch Quiroga selbst versuchte sich übrigens an allerlei brotlosen Erfindungen und am Schnapsbrennen.
Perfektes Erzählen ohne Adjektive
Viele von Quirogas Figuren sehen sich einer Übermacht gegenüber ausgeliefert, kommen nicht dagegen an – sei es die alles verschlingende Natur des Dschungels, seien es höhere Mächte oder eine Vorbestimmung, seien es ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in einigen sozialkritischen Geschichten wie „Die Tagelöhner“ oder auch die moderne Welt, repräsentiert durch Eisenbahn und das Kino. In zwei Erzählungen führt Quiroga das Motiv der Grenzüberschreitung zwischen den Figuren auf der Leinwand und denen im Zuschauerraum ein. Vor allem aber ist es die Allgegenwart des Todes, die bei Quiroga immer spürbar ist.
Das alles könnte leicht ins Barocke, Überschwängliche abrutschen, würde Quiroga das nicht mit seiner sehr reduzierten Sprache auffangen. Er verzichtet auf jedes überflüssige Wort. In seiner kurzen Erzählpoetik „Dekalog des perfekten Erzählers“ schreibt er:
Verwende keine unnötigen Adjektive. Noch so viele farbige Anhängsel werden nutzlos sein, ist das Substantiv schwach. Findet man genau das Richtige, wird es in sich unvergleichlich farbig sein. Aber man muss es finden.
(Seite 414)
Die oft krasse Handlung seiner Erzählungen gibt Quiroga nüchtern wieder, als wäre das Unfassbare selbstverständlich. Das Staunen, Erschaudern, Mitfühlen überlässt er ganz dem Leser.
- Horacio Quiroga, Die Wildnis des Lebens. Gesammelte Erzählungen, Ausgewählt und aus dem Spanischen übersetzt von Angelica Ammar, S. Fischer, 432 Seiten, 24,95 Euro.
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