Morgen und Abend stehen im gleichnamigen kurzen Roman von Nobelpreisträger Jon Fosse für Anfang und Ende des Lebens. In einer äußerlich bewusst schlichten, ruhigen Prosa erzählt er von der Geburt und – deutlich ausführlicher – dem Sterben des Fischers Johannes. Das Buch hat etwas sehr Tröstliches an sich und vermag, sofern man sich darauf einlassen kann, zu berühren.
Ein einfaches Leben
Es ist ein einfaches Leben, in das Johannes eintritt und das er wieder verlässt. Zur Welt kommt er auf einer kleinen Insel, die sein Vater Olai erworben hat, auf der er ein Haus gebaut und mit seiner Frau eine Familie gegründet hat. Die Hebamme muss der werdende Papa per Boot vom Festland abholen. Bei seiner Geburt erhält Johannes den Vornamen des Großvaters. Es steht fest: „Und Johannes soll Fischer werden, genau wie sein Vater.“ (Seite 25)
Damit scheint Johannes auch keinen Moment gehadert zu haben, als viele Jahre später der Tag gekommen ist, aus der Welt zu scheiden. Der alte Mann ist mit sich im Reinen, fährt, so es das Wetter zulässt, noch täglich mit dem Boot hinaus, hat sieben Kinder, alle wohlgeraten, wie er zufrieden feststellt. Nur seit seine Frau Erna nach vielen Jahren liebevoller Ehe gestorben ist, leidet er täglich unter Übelkeit.
Leben und sterben als natürlicher Zyklus
Der Großteil von Jon Fosses Roman beschreibt nun Johannes‘ Todestag, zumeist aus dessen Perspektive. Als er morgens aufsteht, fühlt sich alles seltsam leicht an. Er geht seiner Routine nach, macht einen Spaziergang ans Meer. Dort trifft er auf seinen besten Freund Peter – obwohl der doch bereits gestorben ist. Am Ende wird klar: Johannes ist an jenem Morgen nicht mehr aufgestanden. Seine jüngste Tochter Signe wird ihn tot in seinem Bett finden. Auf dem Weg zu seinem Haus spürt sie auf merkwürdige Art eine – seine – Präsenz, durch die sie hindurchschreitet, während sich der Vater wundert, dass Signe ihn nicht sieht und grüßt. Schließlich fährt er mit Peter im Boot hinaus. Der beste Freund ist gekommen, um ihn sanft hinüber zu geleiten an einen anderen Ort. Am Ende sieht Johannes auf die Trauergemeinde an seinem Grab hinab.
Auf so friedliche, versöhnliche Art sein irdisches Dasein zu beenden, ist natürlich eine wunderbare Vorstellung. Fosse zeichnet ein Bild vom Leben, das sanft kommt und geht wie die Wellen des Meeres, ein natürlicher Zyklus, dem sich der Mensch vertrauensvoll überlassen kann.
Doch wirkt das nicht alles zu idyllisch, fast schon naiv – zumal mit seinen esoterischen Anklängen, wie der Begegnung mit Geistern? Das reale Leben ist in Fosses Text jedenfalls ausgeblendet. Nein, Familie besteht in Wirklichkeit natürlich nicht nur aus einer harmonischen Partnerschaft. Hat man sieben Kinder, ist es recht unwahrscheinlich, dass man glücklich und zufrieden auf ihrer aller Lebenswege blicken kann. Und dass man im hohen Alter bis zum letzten Tag fit und gesund ist, um dann zu Hause in seinem Bett sanft zu entschlafen, ist ganz sicher nicht die Regel. Doch solche Themen wie Pflegebedürftigkeit, Krankheit und Depression im Alter interessieren Fosse hier nicht.
Eine Figur von biblischer Symbolik
Er zeichnet stattdessen das Bild einer vormodernen beziehungsweise zeitlosen Welt – unter freundlicher Ausblendung aller Härten und Widernisse. Morgen und Abend lässt sich als Parabel lesen. Fosse reduziert seinen Text auf das, was ihm nach Abzug allen Getöses der Welt wesentlich erscheint. Der Ansatz ist legitim. Denn was könnte essenzieller und universeller sein am Leben als die Momente der Geburt und des Todes? Johannes wird jenseits individueller Eigenschaften zu einem Repräsentant von Werden und Vergehen und ist gerade als Fischer eine Figur von biblischer Symbolik.
Tatsächlich ist Morgen und Abend ein Text mit religiöser Dimension.
dass Gott die Welt gut geschaffen hat und er allmächtig ist und allwissend, wie sie immer sagen, die Gottesfürchtigen, nein daran hat er nie so besonders geglaubt, aber dass es Gott gibt, nein keine Frage, denn Gott gibt es ja, aber weit weg und ganz ganz nah, denn er ist in jedem einzelnen Menschen
(Seite 16)
So reflektiert Olais Vater Johannes über seinen individuellen Glauben, und diese Gedanken spiegeln sich später bei Johannes und dessen Tochter Signe wieder. Zum philosophisch-religiösen Weltbild, das Morgen und Abend zugrunde liegt, gehört auch eine Vorstellung vom Jenseits.
Nein, da wo wir hinfahren, ist kein Ort und darum hat es auch keinen Namen, sagt Peter
Seite 116
(…)
Ist es gut, dort zu sein?, fragt Johannes
Es ist weder gut noch schlecht, aber groß und still und es flirrt ein wenig, und hell ist es, aber diese Wörter können nicht viel sagen, sagt Peter
(…)
Aber Erna, ist Erna dort?, fragt Johannes
Alles, was du liebst, ist dort, alles, was du nicht liebst ist nicht dort, sagt Peter
Jon Fosse konvertierte zum Katholizismus
Mit solchen Gedanken im Kopf möchte man sich doch am liebsten gleich selbst hinüberschippern lassen. Sie erinnern ein wenig an Volksglauben oder ein selbst zusammengezimmertes, küchenpsychologisches Weltbild, und doch: Denkt man an den eigenen Tod oder den Tod seiner Lieben, können diese Bilder Trost und Mut spenden. Als Leser*in kann man sich emotional darauf einlassen oder nicht. Rein rational tut man sich vermutlich schwer damit.
Es entspricht aber einigen Gedanken, die Jon Fosse, der selbst zum Katholizismus konvertierte, zum Thema Religiosität formuliert hat:
„Der Protestantismus wollte die Mystik und die Poesie aus der Kirche und Glauben verschwinden lassen. Mit dem Ergebnis, dass heute, in unseren aufgeklärten Zeiten kein Mensch mehr buchstäblich glauben kann. Buchstäblich. Man muss in eine allegorische Weise die Bibel lesen, und der Glaube wie ein Mysterium erleben, nicht als etwas Sachliches als ein weltliches Faktum. Es ist ein Mysterium nicht eine Art Faktizität.“
https://www.deutschlandfunkkultur.de/durchs-schreiben-zum-glauben-warum-jon-fosse-zum-100.html
Dieser intuitive Ansatz spiegelt sich in der Sprache des Textes wieder. Die Worte fließen hier auf sehr natürliche Art dahin – ohne eine Begrenzung und Gliederung durch Punkte. Kommas gibt es, auch wenn sie passagenweise ebenfalls verschwinden. Die Syntax ist einfach, der Wortschatz mehr als bodenständig. Es gibt viele Wiederholungen. Praktisch jedem einzelnen Satz einer Figurenrede wird ein „sagt er“ oder „sagt sie“ hintangestellt. Diese Art der sprachlichen Gestaltung strahlt eine große Ruhe aus und entspricht der inhaltlichen Darstellung eines „einfachen Lebens“ und dem Weglassen allen äußerlichen, weltlichen Unfriedens.
Experimentelle Sprache
Bewegter, auch experimenteller ist die Sprache im ersten Kapitel, das die Geburt thematisiert. Hier gleitet der Text stellenweise in den Wirbel eines Bewussteinsstroms und bedient sich lautmalerischer Elemente und der assoziativen Aneinanderreihung von Wörtern, bis teils nur noch einzelne Vokale nebeneinanderstehen. Den Akt der Geburt und das Hinausgestoßenwerden aus dem mütterlichen Schoß „in diese kalte Welt“ (Seite 14) zeichnet Fosse als weit härteren Einschnitt als das Hinausgleiten aus dem Leben.
Morgen und Abend mag in jeglicher Hinsicht, stilistisch wie in seinem Weltbild, Geschmackssache sein. Auch bei mir stieß der Text zunächst auf einen gewissen Widerstand. Letztlich aber konnte ich in seinen speziellen Rhythmus eintauchen. Und die Auseinandersetzung mit Leben und Sterben im Sinne eines Einverstandenseins mit dem natürlichen Prozess ist ein Ansatz, der im Kontrast zum kühlen, oft naturwissenschaftlichen Blickwinkel unserer Zeit bis hin zur künstlichen Lebensverlängerung durch die Gerätemedizin sicher guttut.
- Jon Fosse, Morgen und Abend, Übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt Taschenbuch, 128 Seiten, 13 Euro, als E-Book: 10,99 Euro.
Mein Lesekreis hat sich das Buch jetzt für den Mai ausgesucht und ich bin schon sehr gespannt auf die Leseerfahrung und natürlich auf die Diskussion im Anschluss. Es klingt nach einem sehr intimen, persönlichen Buch, das wohl auch von jeder und jedem unterschiedlich und individuell wahrgenommen werden wird. Aber schön zu lesen, dass es Dich schlussendlich überzeugen konnte. Herzliche Grüße!
LikeGefällt 2 Personen
Wir haben das Buch auch in unserem Lesekreis diskutiert. Die Meinungen gingen weit auseinander. Die Stimmen reichten von „langweilig“ und „Klischee“ bis hin zu großer Begeisterung. Darüber hinaus hat die Lektüre in der Runde noch spannende Gespräche über den reinen Buchinhalt hinaus angestoßen. Viel Spaß in Deinem Lesekreis und herzliche Grüße!
LikeGefällt 1 Person
Pingback: Mein Lesejahr 2024: Ein Rückblick | BuchUhu