Wirst Du zu meiner Beerdigung kommen?
Sie sieht nach unten auf die Kaffeetasse, die vor ihr steht, und sagt nichts.
Wirst du zu meiner Beerdigung kommen, fragt er noch einmal.
Sie sagt, du bist doch noch ganz lebendig.
Aber er fragt ein drittes Mal: Wirst du zu meiner Beerdigung kommen?
(Seite 7)
Nachdem ich die ersten Sätze von Jenny Erpenbecks Roman Kairos gesehen hatte, war mir klar: Ich muss dieses Buch weiterlesen. In aller Kürze lässt die Autorin sofort spüren, dass es hier um große, existenzielle Gefühle zweier Menschen geht. In den äußerlich schlichten Sätzen liegt eine enorme Spannung. Es ist ein perfekter Romanbeginn.
Wuchtige Liebesgeschichte aus der späten DDR
Jenny Erpenbeck erzählt eine wuchtige Liebesgeschichte. Gleichzeitig ist ihr Roman ein Abgesang auf eine Welt, die mit der DDR untergegangen ist. Die Offenheit, mit der dabei ohne Bewertung sowohl auf eine ungesunde Beziehung als auch auf einen ungesunden Staat geblickt wird, irritiert bisweilen, wird mitunter auch anstrengend. Aber das ist nicht das Schlechteste, was man über ein literarisches Werk sagen kann.
Kairos musste den Umweg übers Ausland nehmen, um auf dem heimischen Buchmarkt die gebührende Beachtung zu finden. Als erste Deutsche überhaupt wurde die 1967 in Ostberlin geborene Autorin – gemeinsam mit ihrem Übersetzer Michael Hofmann – 2024 mit dem International Booker Prize ausgezeichnet. Das hat dem Buch drei Jahre nach Erscheinen des Originals hierzulande noch einmal große Aufmerksamkeit eingebracht und auch mich bewogen, das Exemplar aus dem Regal meiner Mutter zu ziehen.
Als erstes in Bann geschlagen hat mich der Stil der Autorin. Sie findet einen ganz eigenen Ton: kunstvoll, ohne gekünstelt zu sein, an der Oberfläche lakonisch und schlicht und gleichzeitig voll innerer Spannung; kühl, aber dabei sehr genau beobachtend und oft nah an der Umgangssprache, sodass man der Gedankenwelt der Figuren – stellenweise unangenehm – nahe kommt. Ich kann mir gut vorstellen, welche Herausforderung es gewesen sein muss, das ins Englische zu übertragen, weshalb Übersetzer Michael Hofmann mit Sicherheit einen großen Anteil an der Auszeichnung mit dem Booker Prize hat. Doch natürlich ist zuvorderst Jenny Erpenbeck eine Erzählerin und Sprachkünstlerin ersten Ranges.
Es ist, was es ist
Inhaltlich steht die ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen der 19-jährigen Katharina und dem 53-jährigen Hans im Mittelpunkt. Sie macht gerade eine Setzer-Lehre, er ist ein arrivierter Schriftsteller, finanziell abgesichert durch eine Beschäftigung als fester Freier beim Staatsrundfunk. Beide streift eines Tages der im Roman zitierte Kairos, der griechische Gott des günstigen Augenblicks, den man am Schopfe packen muss, bevor er vorüber fliegt und man nur noch seinen kahlen Hinterkopf zu Gesicht bekommt. Katharina und Hans begegnen sich zufällig in einem Bus, stehen kurz darauf an der Haltestelle Alexanderplatz bei Regen unter einer S-Bahn-Brücke, kommen ins Gespräch gehen einen Kaffee trinken. Das Schicksal nimmt seinen Lauf.
Ob dieses Aufeinandertreffen nun wirklich als glückliche Fügung zu betrachten ist, ist aus der Perspektive der folgenden Ereignisse aber durchaus fraglich. Katharina lässt sich in eine bedingungs- und kritiklose Liebe fallen, möchte mit Hans Kinder haben und eine Zukunft aufbauen. Hans aber ist verheiratet und hat einen Sohn, und er zeigt wenig Neigung, das sichere Eheleben aufzugeben. Katharina ist beileibe nicht seine erste Affäre – aber offensichtlich eine besonders obsessive. Er lebt an ihr seine sexuellen sadistischen Neigungen aus. Sie lässt sich, obwohl es ihr keinen Lustgewinn bereitet, die Hiebe mit dem Gürtel gefallen und erträgt auch geduldig die Demütigungen eines Daseins als heimliche Geliebte. Wenn er mit Ehefrau Ingrid und Sohn Ludwig Urlaub an der Ostsee macht, quartiert sich Katharina auf einem Bauernhof in der Nähe ein und passt den Moment ab, in dem Ingrid gerade im Meer badet, um ein flüchtiges Treffen mit Hans zu erhaschen. Anrufen darf sie ihn nur zu vorab festgelegten Uhrzeiten.
Als Leser habe ich mich die ganze Zeit gefragt: Warum macht Katharina all das mit? Erst recht, als der emotionale Missbrauch durch Hans in der Folge immer krassere Formen annimmt. Katharina ist mittlerweile zum Bühnenbild-Studium nach Frankfurt/Oder gezogen und hat dort einmal Sex mit einem anderen Mann. Für Hans ist das Anlass, um Katharina mit unendlichen Vorwürfen zu überziehen, sie in quälenden Auslassungen – aufgenommen in länglichen Ergüssen auf Kassette – herabzuwürdigen und in den Schmutz zu ziehen, sich in Selbstmitleid zu ergehen und einen wahren Kontrollwahn zu entwickeln.
Statt ihren Geliebten auf seine offensichtliche Doppelmoral hinzuweisen, wälzt sich Katharina lieber im Staub und unterwirft sich Hans‘ Machtspielchen. Schön und gut: Liebe macht blind, und voraussetzungslos zu lieben, kann einem Menschen Größe verleihen. Doch dieser Katharina möchte man spätestens ab Seite 150 zurufen: „Schick diesen Narzissten doch endlich in die Wüste!“ Bis zur endgültigen Trennung führt uns Erpenbeck aber noch fast weitere 250 Seiten durch die Misere. Das zieht sich.
Meine Zusammenfassung der Liebesgeschichte ist an dieser Stelle kommentierend und von Antipathie gegen die Figuren, vor allem Hans, getragen. Ganz anders ist freilich Erpenbecks Duktus. Sie bleibt kühl und neutral, beschreibt Gefühle zwar, gibt dem Leser aber in keiner Weise vor, was er zu fühlen hat. Die Autorin wechselt virtuos zwischen den Perspektiven von Hans und Katharina hin und her, gibt keiner von beiden den Vorzug. Es ist, was es ist.
Im Milieu von Intellektuellen und Wissenschaftlern
Ähnlich geht die Autorin mit der Geschichte um, die der Roman im Hintergrund erzählt: die von den letzten Jahren der DDR. Die Handlung des Romans reicht von 1986 bis kurz nach der Wiedervereinigung. Hans, Katharina und ihre Familien repräsentieren ein Milieu von Intellektuellen und Wissenschaftlern in Ostberlin, das mit dem Regime – nun ja – nicht unbedingt überkreuz liegt. Hans ist einst sogar bewusst aus idealistischen Gründen aus der BRD in die DDR übergesiedelt – unter anderem, nachdem er beobachtet hat, wie seine Nazi-Vergangenheit den Vater nicht daran gehindert hat, als Professor im Westen rasch wieder Fuß zu fassen.
Prägnant und völlig nachvollziehbar zeichnet Jenny Erpenbeck anhand der Figur Hans, der als Kind begeistert in der Hitler-Jugend mitgemacht hatte, auf individueller Ebene historische Entwicklungen nach, auf denen der Arbeiter- und Bauernstaat und der Idealismus dahinter fußten.
Mit dem Umzug nach Ostberlin hatte Hans eine Entscheidung für immer getroffen, jünger zu der Zeit, als Katharina jetzt ist. Aus Göttingen mit seinen heilen Fachwerksfassaden, die schon seit fünfhundert Jahren dort standen, und auch da gestanden hatten, während es Auschwitz gab, und nach dem Krieg noch immer da standen, aus dieser unheimlich heilen Welt war er ins kaputte Berlin gekommen, in die lädierte Hauptstadt der deutschen Mörder, der man den Krieg noch an jeder Straßenecke ansah: Brachflächen, Ruinen, Einschusslöcher im abbröckelnden Vorkriegsputz, ins Leere laufenden Straßenbahnschienen im buckligen Pflaster. Die Zerstörung war die Wahrheit gewesen. Aber im Ostteil Berlins glühte auf dem Boden dieser Wahrheit ein neues, nie gesehenes Licht auf: wundersam die Stalin-Ecke im Audimax der Humboldt-Universität – rote Glühbirnen um das Porträt des Siegers, der Tisch, auf dem das Porträt aufgestellt war, bedeckt von rotem Fahnenstoff. Dieses Glühen ging ihn, Hans, etwas an.
(Seite 189)
Als zumindest nicht dissidentischer Schriftsteller genießt er in der späten DDR nun einige Privilegien, bewegt sich auf Lesereisen etwa weitgehend frei im Westen.
Katharina entstammt als Tochter von Mitarbeitern der „Akademie der Wissenschaften“ derselben Kulturblase und steht für eine Generation, die keine gar zu große Identifikation mit dem Sozialismus mehr zeigt, aber doch relativ unbehelligt von der Diktatur ihre Freiräume im künstlerisch-intellektuellen Bereich findet. Für sie wie für Hans gilt: Man hört klassische Musik, geht ins Theater, schätzt deutsche Lyrik, deutsche Dramatiker. Das spiegelt sich im Text in einer Vielzahl von literarischen Zitaten wieder.
Man kann – anders als Hans – nicht in den Westen reisen? Nun ja, Budapest und Prag sind doch auch schöne Reiseziele. Und wer braucht Paris, wenn man ein romantisches Wochenende in einem schwärmerisch beschriebenen Moskau verbringen kann? Selbst Ostberlin wirkt mit einem Mal mondän, wenn im Restaurant Ganymed das legendäre Wachtelei in der Suppe schwimmt.
Wiedervereinigung kein Freudentag
Betreibt Jenny Erpenbeck hier eine Verharmlosung, gar Verklärung der DDR? Viele andere Menschen haben den Alltag in der Diktatur mit Sicherheit anders erlebt. Jenny Erpenbeck beschreibt ein begrenztes, elitäres Milieu der DDR-Gesellschaft, das bestimmt nicht repräsentativ war – das aber existierte und dem sie Autorin biografisch offenbar auch selbst entstammt.
Die Autorin ist in ihrem distanzierten Stil aber weit davon entfernt, dieses Milieu oder gar die ganze DDR zu idealisieren. Sie hält vielmehr in ihrer Literatur eine verschwundene Welt fest, die aus westlicher Perspektive kaum wahrgenommen wurde und wird. Sie macht Menschen sichtbar, deren Stimmen in der Geschichte weitgehend untergegangen sind. Diejenigen, für die der Tag der Wiedervereinigung eben kein Freudentag war, die sich von heute auf morgen in einer für sie fremden Welt wiederfanden.
So etwas darf und soll Literatur. Es ist in diesem Fall ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung eines Teils deutscher Geschichte, dem gerade die westdeutsche Gesellschaft weiterhin mit viel Unkenntnis und Desinteresse gegenübersteht. Die Lust, sich tiefer und differenzierter mit der DDR auseinanderzusetzen, ist oft begrenzt – und daraus resultierend das Verständnis für ostdeutsche Biografien und Sichtweisen. Dass Kairos zwar international gefeiert wird, in Deutschland aber bei den wichtigsten Buchpreisen ignoriert wurde, könnte sogar ein Symptom davon sein.
Einblick in diese Welt zu nehmen, heißt ja auch nicht, dass man die entsprechenden Perspektiven teilen muss. Etwas platt fand ich zum Beispiel, dass Katharina bei einer Reise zu ihrer Tante nach Köln einen Sex-Shop als Inbegriff eines westlichen „Alles ist käuflich“ erlebt. Kann man denn wirklich von ein paar Vibratoren moralisch so schockiert sein, während man sich daheim von einem verheirateten Familienvater im Bett den Hintern versohlen lässt und sich der Staatsratsvorsitzene Erich Honecker mit Vorliebe an Softpornos à la „Es jodelt in der Lederhose“ ergötzt?
Aus Hans‘ und Katharinas Sicht wirkt die Wiedervereinigung wie etwas, das vor allem auf die Konsumgier ihrer ostdeutschen Mitbürger zurückzuführen ist. Auf diejenigen, die sich ihre 100 Mark Begrüßungsgeld abholen, blicken sie arrogant herab. Okay, das mit der Biermann-Ausbürgerung fand auch Hans nicht so dolle, und Katharina streicht bei der letzten Volkskammerwahl aus Protest genüsslich alle Namen auf dem Wahlzettel durch. Regierungskritik ja – aber die Liquidierung ihres Staates und vor allem sein Aufgehen in der Bundesrepublik sind ihnen offensichtlich nicht geheuer. Ein Bruch ist die Wiedervereinigung gerade für Hans, der seine Beschäftigung beim Rundfunk verliert.
Während der Nazizeit haben von Bertold Brecht bis Thomas Mann unzählige Schriftsteller ihre Heimat verlassen. Jetzt ist es umgekehrt: die Heimat verlässt ihn.
(Seite 342)
Bis dahin aber sind die Protagonisten vor allem mit ihren privaten Dramen beschäftigt. Politik und die historischen Ereignisse stehen nicht im Zentrum ihrer Wahrnehmung. Und so bleibt auch die Lesart von Kairos offen. Ist es vor allem eine Liebesgeschichte? Ist es ein melancholisches Heraufbeschwören einer verschwundenen Welt? Oder doch eine Parabel der deutschen Geschichte? Steht die quälende Liebe zwischen Hans und Katharina für die Hass-Liebe zu einem ebenso maroden Staat? Jenny Erpenbeck macht dem Leser hierzu keine Vorgaben – wohlweislich.
- Jenny Erpenbeck, Kairos, Penguin Verlag, 384 Seiten, 24 Euro.
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