Um einen Menschen, der anders ist, geht es im Roman Die Vögel des Norwegers Tarjei Vesaas (1897-1970). Der Protagonist Mattis, in der Gesellschaft als „Dussel“ abgewertet, ist eine unvergessliche Figur der Weltliteratur. Der Autor lässt seine Leser*innen in einer ungewöhnlichen, schlichten wie poetischen Sprache in die Gedanken- und Gefühlswelt eines vermeintlich Zurückgebliebenen eintauchen. Das übt einen großen Sog aus und schafft eine zutiefst menschliche Perspektive auf die vermeintliche Normalität.
Der Roman wurde erstmals 1957 veröffentlicht, die Handlung scheint aber in einer zeitlosen, archaischen Sphäre angesiedelt zu sein. Mattis mag seit 37 Jahren auf der Welt weilen – im Geiste aber ist er Kind geblieben. Ein schlichtes Gemüt, könnte man sagen, frei von Bosheit und Berechnung, aber eben auch blind für die Bedürfnisse seiner drei Jahre älteren Schwester Hege, mit der zusammen er ein abseits gelegenes Häuschen im Wald irgendwo im ländlichen Norwegen bewohnt. Hege hat offenbar ihre besten Jahre der Sorge für den Bruder aufgeopfert. Sie geht liebevoll und geduldig auf ihn ein, doch ihre Frustration über das eigene verpasste Leben scheint immer wieder durch.
Mattis sieht, was andere nicht sehen
Durch Strickarbeiten sorgt sie für ein bescheidenes materielles Auskommen. Alle Ansätze, Mattis heranzuziehen, um durch landwirtschaftliche Hilfsarbeiten wenigstens einen kleinen Teil zum Lebensunterhalt beizutragen, scheitern an seiner praktischen Untauglichkeit. Die Bauern der umliegenden Gehöfte wollen ihm nichts Böses, doch sein in gutem Willen in Angriff genommener Einsatz beim Unkrautjäten auf dem Rübenacker endet in Träumereien, im Ausreißen der guten Rübenpflanzen und schließlich einem erschöpften ausgedehnten Mittagsschlaf, bei dem er wenigstens keinen Schaden anrichten kann.
Nein, Mattis schwebt in anderen Sphären. Des Nachts beobachtet er den Balzflug der Waldschnepfen, und in der Tatsache, dass ihre Flugbahn, der Schnepfenstrich, auf einmal direkt über sein und Heges Haus führt, erkennt er Zeichen und Wunder. Mattis sieht, was andere verlernt haben zu sehen, fühlt sich in Einheit und Kommunikation mit einer als magisch erlebten Natur. Doch seine Weltsicht kollidiert grausam mit den Realitäten einer profanen, materialistisch ausgerichteten Welt. Ein Jäger schießt seine geliebte Waldschnepfe ohne Bedacht ab.
Heilige Einfalt
Es hat eine große Kraft, wie Tarjei Vesaas die Leser*innen ungefiltert in Mattis‘ Wahrnehmung der Welt mitnimmt. Der „Dussel“, wie er im Dorf genannt wird, ist mit allen Sinnen offen für das Schöne, aber eben dadurch auch ungeschützt allen Grausamkeiten einer Umwelt ausgeliefert, deren Anforderungen er nicht erfüllen, deren Mechanismen er nicht verstehen kann. In seiner kindlichen Naivität ist Mattis eine sehr berührende Figur, über die man oft schmunzeln muss, über die man den Kopf schüttelt, mit der man aber auch leidet. Vesaas fährt dazu auch das Erzähltempo auf die Trägheit von Mattis‘ Gedankengängen herunter – was aber nicht etwa in Langweile mündet. Im Gegenteil: In dieser tiefen Ruhe lässt sich mehr wahrnehmen.
In seiner vermeintlichen Zurückgebliebenheit und „Fehlerhaftigkeit“ erhält Mattis dadurch eine Würde und Größe, die sich mit den allzu weltlichen Standards eines bäuerlichen Lebensumfelds schwer bemessen lässt. Eröffnen sich diesem angeblichen Dorftrottel nicht andere Dimensionen als den effektiven Rübenpflanzern und Holzfällern? Findet er nicht eine ganz eigene Erfüllung in seiner objektiv betrachtet nutzlosen Tätigkeit als „Fährmann“, der nur ein einziges Mal einen Passagier befördert?
Die Vögel verleiht dem Menschen an sich einen Wert, der jenseits des materiell Bemessbaren liegt. Mattis wird zu einer Symbolfigur für Außenseiter jedweder Couleur, die in weltliche Schemata der Nützlichkeit und des Funktionieren-Müssens nicht hineinpassen. Geistesmenschen und Künstler, Angehörige aller als solche definierten „Minderheiten“, alle, die dem Leistungsgedanken und dem Uniformitätsdruck der Gesellschaft nicht standhalten können oder wollen, werden ein hohes Identifikationspotenzial in Mattis entdecken. Dass Mattis am Ende grausam an seiner heiligen Einfalt wie an den Realitäten der Außenwelt scheitert, spiegelt eine grundlegende Tragik des Lebens.
- Tarjei Vesaas, Die Vögel, Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel, dtv, 280 Seiten, 14 Euro.
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