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Haben wir es hier mit einem historischen Mittelalter-Stoff zu tun? Oder eher einer Art Fantasy-Epos? Vielleicht doch vor allem mit einer modernen politischen Utopie? In ihrem Roman Matrix kombiniert die US-amerikanische Autorin Lauren Groff sehr heutige feministische Thesen mit einem detailreich und fundiert kreierten Ambiente aus dem 12. Jahrhundert. Das ergibt einen Mix, bei dem man sich fragt, ob die Zutaten wirklich immer zusammenpassen, der aber am Ende durchaus süffig ist – wenn auch leicht künstlich im Nachgeschmack. Jedenfalls handelt es sich um ein vom Buchcover bis hin zu Inhalt und Stil schillerndes Buch.

Marie de France als historisches Vorbild

Von einem historischen Roman lässt sich insoweit sprechen, als Lauren Groff auf zwei geschichtlich verbürgte Frauenfiguren zurückgreift. Matrix spielt zur Zeit der Eleonore von Aquitanien (ca. 1124 – 1204), bei Wikipedia bezeichnet als „eine der einflussreichsten Frauen des Mittelalters“, die durch Heirat zunächst Königin von Frankreich, dann Königin von England wurde. Die Hauptfigur des Romans aber ist angelehnt an Marie de France (ca. 1135 – ca. 1200). Sie gilt als erste bekannte Dichterin der französischen Literatur. Viel mehr ist von ihr nicht überliefert. Manche Historiker setzen sie gleich mit einer unehelichen Tochter Gottfrieds V. von Anjou und somit der Halbschwester Königs Heinrich II. – Eleonores Ehemann -, einer dokumentierten Äbtissin von Shaftesbury.

Dieser These folgt Lauren Groff und nutzt gleichzeitig die Freiheit der großen Leerstellen, die die Geschichtsschreibung offen lässt. Matrix erzählt das Leben einer „Marie aus Frankreich“, einsetzend im Jahr 1158. Das Mädchen, einst Frucht einer Vergewaltigung durch einen hohen Adeligen und danach bei der alleinstehenden Mutter und einer Schar Tanten aufgewachsen, hat nach dem Tod der Mutter zunächst Eingang am Hof ihres Halbbruders Heinrich II. und seiner Frau Eleonore gefunden. Doch als sie 17 ist, verbannt die abgöttisch verehrte Königin das Mädchen, indem sie es zur Priorin eines heruntergekommenen, von Armut, Schmutz und Krankheiten gezeichneten Klosters in der Provinz ernennt.

Marie, die keinerlei, schon gar nicht christlich motivierte Berufung zum Klosterleben verspürt, hadert über Jahre mit ihrer Verurteilung zu diesem gefängnisartigen Dasein. Sie versucht, durch das Verfassen von glühenden Versepen, sogenannten Lais, Eleonores Herz zu erweichen und so eine Rückkehr an den Hof zu erreichen, bleibt jedoch unerhört.

Kloster als weibliches Machtzentrum

Genannte Lyrik bleibt auch Groffs einzige Referenz zur historischen Dichterin Marie de France. In der Folge erzählt sie stattdessen, wie Marie sich zu einer durchsetzungsstarken, klugen, machtbewussten Führungsfigur entwickelt. Marie steigt zur Äbtissin auf und leitet das einst elende Kloster und seine hungernden Nonnen in eine Blütezeit. Mit etwas, das man heute wohl als „gute Regierungsführung“ oder „Führungskompetenz“ bezeichnen würde, mit Netzwerken, Durchsetzungsfähigkeit, ökonomischem Geschick und, wenn nötig, Intrigen organisiert sie den Aufstieg des Klosters zum wirtschaftlichen und politischen Machtzentrum.

Und zwar – und das ist wichtig – einem rein weiblichen Machtzentrum. Denn die Abschottung gegenüber jedwedem Einfluss und Zugriff des „aggressiveren Geschlechts“ (Seite 218) ist Maries vielleicht wichtigstes Instrument. So schafft sie für die Schwestern eine Art Schutzraum, in dem sie wachsen und gedeihen können „wie Säuglinge in der dunklen, pulsierenden Wärme des Mutterleibs“ (Seite 303). Von diesem Bild lässt sich auch der Romantitel Matrix herleiten, lateinisch für „Gebärmutter“ oder „Muttertier“.

Inwieweit ein solches Matriarchat nun historisch gesehen als realistisch zu betrachten ist, sei dahingestellt. Einerseits gehörten Klöster sicherlich über Jahrhunderte zu den wenigen Räumen, in denen zum einen rein weibliche Lebensgemeinschaften bestanden und in denen zum anderen Frauen Machtpositionen inne hatten. Andererseits ist die Romanhandlung von Matrix wohl weniger als Darstellung geschichtlicher Tatsachen aufzufassen denn als utopisches Muster weiblicher Selbstermächtigung, die Lauren Groff durch die zeitliche Entfernung in bewussten Kontrast zu aktuellen Realität setzt.

Ein heutiges Ideal der starken, gleichberechtigten, autonomen Frauenfigur, verpflanzt ins tief patriarchale, unaufgeklärte Mittelalter: Überzeugt das? Diese Widersprüchlichkeit ziept und spannt durchaus an einigen Stellen des Romans. Da zeichnet Groff auf der einen Seite die mystisch-abergläubische Denkweise der Epoche auf, zeichnet ihre Figuren dann aber wieder erstaunlich rational. Mal driftet sie in einen historisierenden Sprachduktus ab, wirft mit lateinischen und altgriechischen Wörtern wie „Miasma“, „Sukkubus“ oder „Interdikt“ um sich, mal wird die Ausdrucksweise wieder flapsig-modern, wenn es etwa heißt, die Nonnen seien „knapp bei Kasse“. Ob das alles gewollte Reibung ist?

Eine markante Protagonistin

Alles in allem aber überzeugt der Roman aufgrund seiner erzählerischen Qualitäten. Sehr einfallsreich und anschaulich entwirft die Autorin den Lebenslauf dieser Marie anhand immer neuer, interessanter Episoden. Von seiner markanten, starken Protagonistin lebt der Roman. Äußerlich mag Marie dem gängigen Schönheitsideal widersprechen, doch weiß sie ihre Ausstrahlung und natürliche Autorität – nicht zuletzt aufgrund ihrer ungewöhnlichen Körpergröße – einzusetzen. Groff schafft es, plausibel zu machen, welche Durchschlagskraft es hat, wenn Maries Gesicht „so furchtbar, so steinhart und schier übermenschlich“ aussieht, „dass die Cellerarin, eine stämmige, polterige Frau, die sonst gern einmal den Dienstboten und andere, unter ihr stehende Nonnen ohrfeigte, sich ängstlich geduckt habe“ (Seite 63).

Es ist spannend, von immer neuen Machtkämpfen, Intrigen und geschickt eingeleiteten Maßnahmen zu lesen, mit denen Marie das Kloster voranbringt und die eigene Position festigt. Umgeben ist sie dabei von einem bunten Panoptikum von Nonnen, deren Charaktere Groff pointiert skizziert. Die Nutzung des Präsens macht die Erzählung unmittelbar und packend.

Dazu entwirft Groff ein sehr lebendiges, farbenfrohes und dabei historisch überzeugendes Bild vom klösterlichen Leben im Mittelalter. Die vielen Details machen die Beschreibungen nuanciert und plastisch. Natürlich ist das angewandte Prinzip „viel ist viel“ auch Geschmackssache. Die Aufzählungen aller möglichen Heilkräuter aus dem Klostergarten, von Speisen oder auch Krankheiten wirken mitunter etwas aufgesetzt, genauso wie die mit der ganz großen Gießkanne den Text flutenden Adjektive und Vergleiche.

Quietschbuntes Mittelalter

Da erfahren wir etwa: „Liebstöckel, Fenchel und Zuckerwurzel wuchern geradezu, und die Grünkohlpflanzen sind so groß wie Dreimonatsbabys“ (Seite 162). Nur ein paar Absätze weiter werden dann „Brombeeren, Schlehen, Zwetschgen, Brambusch, Heidekaut, Holunder, Himbeeren, Eberesche, Johannisbeeren und Mehlbeeren“ angepflanzt, bevor zur Feier des Tages jede Schwester „ein Stück Forelle, so dick wie ihr Psalmenbuch, und ein Küchlein mit Haselnüssen und Honig“ (Seite 163) kredenzt bekommt. Man merkt: Da hält eine Autorin herzlich wenig von lakonisch-sparsamer Sprache, sondern lässt es lieber richtig krachen. Das verleiht dem Text eine Anmutung, die mir manchmal etwas zu quietschbunt, fast poppig wirkt.

Dies gilt insbesondere für die Schilderung einiger Visionen, die über Marie kommen und ihr Anstoß und quasi göttliche Legitimation für mehrere Bauprojekte geben. So erscheinen ihr einmal am Himmel Eva und die Jungfrau Maria, die sich am Ende auf den Mund küssen. In einem Madonna-Video in den 1980er-Jahren mag das noch provokant gewesen sein. Im mittelalterlichen Kontext des Romans wirkt es eher gewollt.

Dass Lauren Groff gelegentlich über die Stränge schlägt, ist aber – um in der klösterlichen Bildwelt zu bleiben – eine lässliche Sünde. Seine Ungezähmtheit und sein erzählerischer Überfluss bewahren den Roman davor, zu thesenhaft zu werden. Eine „Geschichte über feministische Selbstermächtigung und queere Liebe“, wie im Klappentext angepriesen: Ja, das ist Matrix sicher auch. Aber keiner muss sich hier vor „woken“ Belehrungen fürchten (wobei ich persönlich „woke“ im Sinne einer Sensibilität für Diskriminierung nach wie vor für ein sehr positives, zu Unrecht diffamiertes Attribut halte). Und auch wenn Marie hie und da Sex mit Frauen hat, wird das – zu Recht – nicht weiter problematisiert noch politisiert, sondern einfach sinnlich erzählt.

Alten weißen Männern, die dennoch alternative Lebensentwürfe scheuen wie der Teufel das Weihwasser, gereicht es bestimmt zum Trost, dass eine der ersten Amtshandlungen Maries im Kloster darin besteht, das Verbot, vierbeinige Tiere zu essen, aufzuheben. Zumindest ist die queere Nonne nicht auch noch Veganerin!

  • Lauren Groff, Matrix, Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs, Ullstein, 320 Seiten, 13,99 Euro.

Ein Kommentar zu “Lauren Groff, Matrix

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