Familie, das bedeutet nicht nur Liebe, Idyll und Geborgenheit, sondern oft genug auch Verletzungen und komplizierte emotionale Verstrickungen. Eine schmerzhafte Mutter-Tochter-Beziehung zeichnet die norwegische Autorin Vigdis Hjorth in ihrem Roman Die Wahrheiten meiner Mutter, und das äußerst fesselnd und mit großem psychologischen Tiefgang. Auf 400 Seiten kommt sie dabei mit wenig äußerer Handlung aus. Das kammerspielartige Duell zwischen den beiden Frauen hält aber eine enorme innere Spannung aufrecht. Für mich war der Roman atemberaubender als jeder Krimi.
Ich-Erzählerin ist die 60-jährige Johanna, eine erfolgreiche Malerin, die aus Anlass einer Ausstellung mit einer Retrospektive ihres Werks nach langer Zeit aus den USA zurück in ihre Heimat Oslo kommt. Hier lebt ihre hochbetagte Mutter, mit der sie 30 Jahre keinen Kontakt mehr hatte.
Wiederannäherung scheitert
„Eines Abends habe ich Mutter angerufen“ (Seite 7): Diese Worte stehen am Anfang einer zunächst noch eher ziellosen Initiative Johannas. Doch die Mutter antwortet nicht und blockt jeden Versuch der Annäherung ab, offenbar unterstützt von der sie betreuenden und sie abschirmenden jüngeren Tochter Ruth. Johannas Anläufe zur Kontaktaufnahme steigern sich quälend in ihrer Intensität. Sie versucht es mit SMS, einem Brief, bis ihr Verhalten schließlich Züge von Stalking annimmt: Sie postiert sich mit dem Auto vor dem Wohnhaus der Mutter, um sie heimlich zu beobachten, dringt gar in den Garten und ins Treppenhaus ein, klingelt schließlich an der Tür – und bekommt selbige vor der Nase zugeschlagen. Als Leser habe ich diese Art der Jagd gebannt verfolgt: Die Beute wird zunehmend in die Enge getrieben, entzieht sich aber jedes Mal, und das erlösende Ende bleibt aus.
Was sich ebenfalls steigert, bis es fast manische Züge annimmt, ist Johannas Gedankenkarussell rund um das zerrüttete Verhältnis zur Mutter. Sie ergeht sich in Spekulationen: Wie mag die Mutter jetzt wohl leben, was denkt sie, was bringt sie zu ihrer brutal zurückweisenden Haltung, welche Rolle spielt Ruth dabei? Johannas Analyse ist psychologisch überzeugend. Es sind aber nur ihre eigenen Schlussfolgerungen. Was Mutter und Schwester tatsächlich bewegt, erfahren die Leser*innen des Romans an keiner Stelle.
Intensives Familien-Psychogramm
Der Text ist kein abwägendes, sondern ein radikal einseitiges Familien-Psychogramm aus der Sicht Johannas, das aber gerade in dieser Subjektivität und Intensität fesselt und erschüttert. Es beinhaltet gleichzeitig das Eingeständnis, dass es hier keine allgemeingültige „Wahrheit“ geben kann. Ironischerweise sind es gerade die titelgebenden „Wahrheiten der Mutter“, die bewusst ausgeblendet bleiben.
Was zu dem Zerwürfnis führte, erfahren wir also nur aus Sicht der verlorenen Tochter. Demnach enttäuschte Johanna ihre Eltern einst, indem sie den vorgezeichneten Lebensweg als Top-Juristin und bürgerliche Ehefrau verließ und stattdessen mit ihrem amerikanischen Zeichenlehrer in die USA ging. Durch bestimmte Gemälde Johannas fühlte sich die Mutter zudem öffentlich bloßgestellt. Der ultimative Vorwurf aber, den ihr Mutter und Schwester machen, ist, dass Johanna nicht zur Beerdigung des Vaters gekommen ist.
Die Wurzeln der Entfremdung müssen aber tiefer reichen, das ist klar. Johanna kommen einige Schlüsselszenen aus der Kindheit in Erinnerung. Erkennbar wird, dass die unterdrückerische Figur des Vaters mindestens psychische Gewalt in der Familie ausgeübt hat und sein langer Arm auch nach seinem Tod bis in die Gegenwart reicht.
Der eine große Paukenschlag als Erklärung bleibt aber aus – dankenswerter Weise, denn zum einen sind zwischenmenschliche Beziehungen komplexer, als dass es nur eine einzige Antwort geben könnte, zum anderen bleibt Vigdis Hjorths Text auf diese Weise offen genug, um übertragbar auf viele dysfunktionale oder zumindest angeknackste oder auch ganz normale Familienkonstellationen zu bleiben. Auch wenn das Ausmaß der Entfremdung nicht immer solche Extreme annehmen muss, können sicher viele Leser*innen etwas von ihren eigenen Eltern-Kind- beziehungsweise Geschwister-Verhältnissen auf den Roman projizieren.
Es geht um Fragen, die mehr oder weniger jeden betreffen: Wie weit muss man sich von den Eltern distanzieren, um sein eigenes Leben führen zu können? Geht das dann gegebenenfalls auf Kosten von Geschwistern, an denen im Alter die Pflege der Eltern hängen bleibt? Welche Auswirkungen haben Macht-, Unterdrückungs- und Verdrängungsmechanismen in einer Familie? Wie gerät ein Familienmitglied in die Rolle des Sündenbocks? Macht man im Versuch, sich unbedingt anders zu verhalten als seine Eltern, vielleicht bei den eigenen Kindern erst recht so manches falsch?
Viele Reflexionen in dem Roman gehen unter die Haut und regen zum Nachdenken an, wie etwa diese:
Eine Frau bringt ein Kind auf die Welt und weiß nicht, wie sie mit dem hilflosen Wesen umgehen soll, das ihr in die Arme gelegt worden und von ihr abhängig ist, davon, dass sich die Frau darum kümmert. Aber wie sollst du dich um sie kümmern, wenn du nicht einmal auf dich selbst aufpassen kannst? Das Kind wird zu einer Last, das Kind wird zu einer unmöglichen Herausforderung, denn wie sollst du die Last tragen, das Kind, wenn du nicht einmal das Kind tragen kannst, das du warst, das Kind, das in jedem von uns wohnt, vor allem in denen, die die Mutter so früh verloren haben, dass sie sich kaum an sie erinnern können, und die die Mutter deshalb wie ein Loch in ihrer Seele mit sich herumtragen, so wie wir alle unsere Mütter wie ein Loch in unserer Seele herumtragen, ob klein oder groß, lebendig oder tot, und deshalb versuchen wir alle, diese Löcher zu füllen, um leben zu können oder unsere Mütter zu verlassen, und wenn wir glauben, das geschafft zu haben, müssen wir mit der Schuld leben, sie verlassen zu haben. (Seite 290)
Autofiktional oder nicht?
Vigdis Hjorth, geboren 1959, gilt als Vertreterin der „radikalen skandinavischen Selbstentblößungs-Literatur“, zu der auch die Werke von Karl Ove Knausgård gezählt werden – so beschreibt es Iris Radisch in der ZEIT (https://www.zeit.de/2023/43/die-wahrheiten-meiner-mutter-vigdis-hjorth-roman-norwegen). Die Grenzen von Autobiografie und Fiktion verschmelzen also offenbar in Hjorths Werk. Ihre Familie jedenfalls fühlte sich von der Autorin als literarisches Material missbraucht und diffamiert. Der Streit erreichte seinen Höhepunkt, als die Protagonistin im Roman Ein falsches Wort einen Missbrauchsvorwurf gegen den Vater erhob. Vigdis Hjorths Schwester sah sich gar zu einer Art Gegenstellung in einem eigenen Roman veranlasst.
Nachdem ich dieses Vorwissen hatte, war ich erleichtert, dass Die Wahrheiten meiner Mutter dem Lesepublikum keineswegs eine autofiktionale Lesart aufdrängt. Eigene Erfahrungen der Autorin spielen bestimmt hinein – bei welchem Roman ist das nicht der Fall? Aber das Buch zwingt die Leser*innen keineswegs, sich für das persönliche Schicksal der Schriftstellerin zu interessieren. Es bleibt Literatur, die uns eine Geschichte erzählt, die individuell berührt und in mancher Hinsicht Allgemeingültigkeit hat.
Etwas erstaunt bin ich, wie zurückhaltend die deutsche Kritik auf den Roman reagiert hat. Selbst die wohlwollende Iris Radisch spricht von mangelnder Plausibilität. Als „mühsam“ bezeichnet Rezensent Franz Haas den Roman in der Neuen Zürcher Zeitung und spricht von einer „beachtlichen Ironie- und Witzlosigkeit“ (Quelle: https://www.perlentaucher.de/buch/vigdis-hjorth/die-wahrheiten-meiner-mutter.html). „Ecken und Kanten“ vermisst Enno Stahl in seiner Buchbesprechung im Deutschlandfunk (https://www.deutschlandfunk.de/vigdis-hjorth-die-wahrheiten-meiner-mutter-dlf-d4876bc9-100.html).
Strenger Stil und theatralische Effekte
Das habe ich völlig anders empfunden. Die Handlung macht zwar am Anfang den Eindruck, als trete sie monoton auf der Stelle, doch die Kreisbewegungen beinhalten eine langsame Steigerung, die ich als sehr eindringlich erlebt habe. Und ja, Hjorths Stil ist in gewisser Weise ernst und streng. Sie gönnt uns kaum einen Moment des Durchatmens. Sie schreibt in einer klaren, sachlichen Sprache, die es aber schafft, das nach außen teils irrational und obsessiv wirkende Verhalten der Protagonistin nachvollziehbar zu machen.
Dann wieder setzt die Autorin ihren reduzierten literarischen Mitteln eine regelrechte Theatralik entgegen, wenn sie einzelne Sätze ganz allein auf einer weißen Seite stehen lässt und so eine unglaubliche Wirkung verbreiten lässt. Da bekommt etwa dieser Satz allen Platz der Welt, sich zu entfalten: „Als ich an der Tür geklingelt habe, hat sie geöffnet“ (Seite 278). Ich habe den Atem angehalten. Und einmal steht da nur isoliert: „Das zu wagen.“ (Seite 372)
In anderen Passagen kreiert Vigdis Hjorth durch Beschreibungen der Natur und des Wetters eine intensive Atmosphäre. Johanna hat eine Hütte im Wald als Rückzugsort gewählt. Dort wie aber auch in der Stadt beobachten wir, wie die Jahreszeit vom nordischen Frühherbst in den Winter übergeht, wie Johanna sich mal durch Schneemassen kämpft, mal im Nieselregen steht – sehr passend zu der nach außen unterkühlten Beziehung zur Mutter und in Kontrast zu ihren inneren Feuern. Und mit einigen Begegnungen mit einem Elch im Wald bringt die Autorin eine sehr stimmige, poetisch-metaphorische Note ein, gerade richtig dosiert, nämlich sehr sparsam.
Der Roman endet mit einem starken Finale. Ich verrate sicher nicht zu viel, wenn ich sage, dass die Autorin bis zum Schluss hart bleibt und uns keine Aussöhnung zwischen Mutter und Tochter zugesteht. Und doch ist es ein Schluss ohne Hass. Das ist groß.
- Vigdis Hjorth, Die Wahrheiten meiner Mutter, Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, S. Fischer, 400 Seiten, 24 Euro.
Pingback: Mein Lesejahr 2024: Ein Rückblick | BuchUhu