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Der 18. Oktober 2019 gilt als der Tag, an dem die sozialen Proteste in der chilenischen Hauptstadt Santiago explodierten. Die Massen demonstrierten gegen soziale Ungleichheit und ein neoliberales System, das im Kern in den drei Jahrzehnten seit der Pinochet-Diktatur keinen grundlegenden Wandel erfahren hatte. Eine passende Lektüre zum fünften Jahrestag dieses Estallido Social bietet der Roman Limpia (deutscher Titel: Mein Name ist Estela) der 1983 geborenen Autorin Alia Trabucco Zerán. Die Straßenproteste jener Zeit scheinen hier zwar nur punktuell und im Hintergrund auf. Doch der Roman verhandelt auf Ebene einer individuellen, persönlichen Geschichte, was den gesellschaftlichen Spannungen in Chile – und nicht nur dort – zugrunde liegt: ein tief verankertes Klassensystem und eine gnadenlose Leistungsgesellschaft.

Monolog eines Hausmädchens

Rein äußerlich baut Limpia auf einer Art von Kriminalplot auf. Ein siebenjähriges Mädchen ist ums Leben gekommen, das erfahren die Leser gleich zu Beginn. Der Roman besteht nun aus einer Art Zeugenaussage des Hausmädchens Estela, das im Verdacht steht, für den Tod des Kindes verantwortlich zu sein. In einem langen Monolog erklärt sie sich gegenüber einer Zuhörerschaft, die sich ebenso unsichtbar wie stumm hinter einer verspiegelten Wand befindet. Bei den Adressaten von Estelas Aussage könnte es sich um ermittelnde Polizisten handeln, um Geschworene in einem Gerichtsprozess – oder auch um die Leserschaft des Romans.

Jedenfalls lauschen wir über rund 200 Seiten hinweg einer Figur, wie sie sonst in Gesellschaft und Literatur eher selten eine Stimme bekommt, die oft nur als Randphänomen wahrgenommen wird, der man die Eigenschaft als handelndes Subjekt abspricht: einer Hausangestellten, und zwar einer im Modus „puertas adentro“, das heißt, dass die Mitarbeiterin im Haus der Familie untergebracht ist und letztlich – ob sie nun gerade im Dienst ist oder Freizeit hat – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche im häuslichen Bereich ihrer Arbeitgeber verbringt.

So bewohnt auch Estela im Haushalt eines wohlhabenden Ehepaars ein kleines Kämmerchen neben ihrem Hauptwirkungsfeld, der Küche, bezeichnender Weise davon nur getrennt durch eine Milchglastür – mit Privatsphäre ist da also nicht viel. Mit vielen Ausschweifungen berichtet Estela von den sieben Jahren, die sie bei der Familie verbringt, von ihrer Anstellung im Alter von 33 Jahren zu einem Zeitpunkt, als die Señora schwanger ist, bis zum Tod der Tochter Julia.

Ungesundes Machtgefälle

Anhand vieler verschiedener Szenen wird dabei das ungesunde Machtgefälle in dieser Konstellation deutlich. Mag sie auch noch so in höflichen Umgangsformen und freundlichen Worten verkleidet sein: Die Hierarchie ist in jedem Wort und jeder Geste des Alltags unmissverständlich klargestellt. Auch eine freundlich vorgetragene Bitte der Chefin bleibt eben doch eine Anweisung, der Estela Folge zu leisten hat. Und als Estela einmal heimlich ein neues Kleid der Hausherrin anprobiert und dabei erwischt wird, reagiert die mit der demütigenden Anweisung, Estela möge das Kleid waschen, als klebte etwas vom Schmutz der Unterschicht am Stoff.

Gleichzeitig herrscht allein schon durch die räumliche Nähe eine Art von unfreiwilliger Intimität. Ohne es zu wollen, beobachtet Estela das Ehepaar beim Sex im Esszimmer. Der Hausherr blickt dem im Türrahmen stehenden Hausmädchen offensiv in die Augen, als wolle er sagen: Es gibt für ihn keinen Grund, sich durch die Anwesenheit der Rangniedrigeren in irgendeiner Form einzuschränken.

Klaustrophobischer häuslicher Rahmen

Alia Trabucco Zerán findet aussagekräftige Szenen und Bilder, um die tiefe Einsamkeit und Isolation zu veranschaulichen, die nicht nur die Haushälterin, sondern auch das Mädchen Julia betrifft. Estela sitzt materiell wie emotional in einer Falle. Sie möchte dem fast sklavenartigen Anstellungsverhältnis entkommen, doch um ihren Lebensunterhalt zu sichern und um die in Süd-Chile auf dem Land lebende Mutter zu unterstützen, braucht sie das Einkommen, das andererseits nicht ausreicht, um etwas anzusparen und das Ziel zu erreichen, in der Heimat das Haus der Mutter zu renovieren.

Dabei leidet sie an ihrem Arbeitsplatz unter der Ambiguität, einerseits eine Art Familienmitglied zu sein. Unweigerlich entwickelt sie mütterliche Gefühle für das Kind, das sie hauptsächlich aufzieht. Andererseits begegnen ihr die anderen im Haus in keinem Augenblick auf Augenhöhe.

Äußerlich spiegelt sich Estelas Gefangensein im klaustrophobischen räumlichen Rahmen des Romans wider, der sich fast ausschließlich im häuslichen Bereich abspielt und die vielen alltäglichen Verrichtungen darin abbildet.

Eine emotionale Doppeldeutigkeit scheint derweil auch das Mädchen zu zerreißen. Estela ist für die Kleine Hauptbezugsperson, aber mit der Kindern eigenen Grausamkeit spielt Julia auch ihre Macht gegenüber der Angestellten aus. Mag ja sein, dass ihr erstes Wort nana (also in etwa: Nanny) und nicht mamá ist – doch schon sehr früh zeigt auch das Kind ein deutliches Bewusstsein für den Klassenunterschied und lässt ihn Estela spüren. Dabei kann sie so unausstehlich werden, dass man Estela durchaus Mordgelüste gegenüber dem Gör zutraut.

Kind zerbricht an Leistungsgesellschaft

Vor allem aber ist es die Erwartungshaltung der ganz auf Effizienz und Funktionieren-Müssen ausgerichteten Eltern, unter der Julia leidet und gegen die sie immer wieder auf ihre Weise rebelliert: indem sie das Essen verweigert, sich die Fingernägel abkaut und sich einmal sogar absichtlich den Finger bricht, um sich für ein paar Wochen dem Klavierunterricht zu entziehen.

Bis sich am Ende alles, was sich in dieser ungesunden Haushaltsgemeinschaft angestaut hat, in dramatischen Ereignissen zuspitzt, reiht Trabucco Zerán eine vielsagende Episode an die andere. Die geschilderten Situationen sind teils sehr auf den Punkt und fein beobachtet, teils aber auch vielleicht etwas zu forciert symbolträchtig. Die Spannung aufrechterhalten soll dabei die offene Frage nach den Todesumständen des Kindes. Bis allerdings etwas wie eine aufeinander aufbauende Handlung mit etwas Dramaturgie in Gang kommt, dauert es ziemlich. Ich fand, dass manches, was erst bedeutungsschwanger aufgebaut wurde, am Ende lose in der Luft hängen blieb.

Ganz ersparen kann ich dem Roman auch nicht den Vergleich mit Leïla Slimanis Bestseller Dann schlaf auch du von 2016. Die Thematik ist sehr ähnlich. Auch Slimani schildert das von den sozialen Gegensätzen und missverstandenen Gefühlen geprägte Verhältnis zwischen einer Familie der gehobenen Mittelschicht und ihrem Kindermädchen, und auch hier sind am Ende die Kinder tot. Die französische Autorin empfand ich dabei aber als noch konsequenter, kühler, mitunter bösartiger und gleichzeitig mit einem differenzierteren Blick auf die „Dienstherren“, die bei Trabucco Zerán doch etwas eindimensional bleiben.

Hintergrund der Massenproteste in Chile

Eine Stärke von Limpia ist dagegen die kraftvolle, sehr reflektierte Erzählstimme seiner Protagonistin Estela. Bei aller Beschränkung auf den Mikrokosmos eines Haushalts gelingt dem Roman ein soziologisches Portrait einer starren Gesellschaft der Ungleichheit. Alle Beteiligten sind in ihren Rollen eingesperrt, keiner von ihnen kann glücklich werden.

Trabucco Zerán holt den zeithistorischen Kontext ihres Landes dezent herein, indem sie immer wieder Bilder von den Massenprotesten auf den Straßen über den Fernseher flimmern lässt. Am Ende gerät Estela selbst mitten in die Unruhen. Ihre Geschichte macht fühlbar und erlebbar, wo die Wurzeln der Unzufriedenheit und Spannung in einer ungerechten, kalt-materialistischen Gesellschaft liegen und wie die Wut aufkommt.

  • Alia Trabucco Zerán, Limpia, Lumen, 199 Seiten. Deutsche Ausgabe: Mein Name ist Estela, Aus dem Spanischen von Benjamin Loy, Hanser Berlin, 240 Seiten, 24 Euro.

Einen guten Überblick über den Estallido Social in Chile und die Folgen bietet dieser Artikel auf der Seite der Heinrich-Böll-Stiftung:

Chile: Die Folgen des Estallido Social halten bis heute an

Ein Kommentar zu “Alia Trabucco Zerán, Limpia (Mein Name ist Estela)

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