Schon 30 Jahre ist es her, dass der Film Il Postino in die Kinos kam und die Herzen der Zuschauer anrührte. Das kleine Jubiläum im Jahr 2024 ist ein schöner Anlass, zur Romanvorlage zu greifen, dem Buch Mit brennender Geduld. Doch es gibt auch einen traurigen Anlass zur Lektüre: Der Autor, Antonio Skármeta aus Chile, ist am 15. Oktober 2024 gestorben. Sein liebenswerter Text aus dem Jahr 1985 hat mich immer wieder zum Lächeln gebracht, doch dahinter verbirgt sich viel mehr: eine bereichernde Anregung, sich mit dem großen Dichter Pablo Neruda auseinanderzusetzen, mit dem Wirken der Poesie im Leben jedes Menschen und auch mit einem wichtigen politischen Statement für Freiheit und Gerechtigkeit.
Der Postbote und der Nobelpreisträger
Mit brennender Geduld spielt – anders als die Verfilmung Il Postino, die im Italien der 1950er-Jahre angesiedelt ist – in den 1970er-Jahren in Chile. Dementsprechend befindet sich der Dichterfürst zum Zeitpunkt der Romanhandlung nicht etwa im Exil, sondern residiert in seinem berühmten Haus in Isla Negra in der Nähe von Santiago de Chile. Eigentliche Hauptfigur ist aber der junge Mario. Im Film verkörpert vom damals 41-jährigen Massimo Troisi (der nach dem letzten Drehtag starb), handelt es sich im Roman um einen gerade mal 18 Jahre alten Jüngling.
Dazu, seinem Vater bei der Fischerei zu helfen, überhaupt zur Arbeit, fühlt er sich nicht berufen, sondern schützt lieber häufige Schnupfen-Infektionen vor. Als der gutmütige Vater ihn auffordert, sich anderweitig einen Job zu suchen, meldet sich Mario auf einen Stellenaushang am örtlichen Postamt. Gesucht wird ein Briefträger, der allerdings nur einen einzigen Adressaten zu beliefern hat: den Dichter Pablo Neruda, der in Isla Negra täglich bergeweise Post aus aller Welt erhält. Mario erfüllt die Voraussetzungen: Er ist im Besitz eines eigenen Fahrrads und – gerade so – des Lesens mächtig.
Aus den täglichen Besuchen des Zustellers in der abseits gelegenen Villa des Poeten entwickeln sich nach und nach Gespräche, dann eine Freundschaft. Zunächst geht es Mario darum, in einem Gedichtband eine persönliche Widmung Nerudas zu ergattern – in der Hoffnung, mit diesem Beutestück Frauen zu beeindrucken. Dann lässt er sich vom Literaten erläutern, was eine Metapher ist. Bald darauf geht es Mario um eine ganz spezielle Frau: Beatriz, deren Bluse sich so straff über ihren Busen spannt, hat ihm in der örtlichen Kneipe am Kickertisch den Kopf verdreht – und Mario hat kaum ein Wort herausgebracht. Mit seinem Liebeskummer vertraut er sich der väterlichen und in solchen Dingen offenbar bewanderten Figur des Poeten an und bittet diesen gar um ein Gedicht, um die Angebetete zu erobern.
Wie Poesie den Alltag verwandelt
Mit seiner Geschichte veranschaulicht Skármeta, wie die Poesie auch das Leben vermeintlich „einfacher“ Menschen verwandeln kann. Mario kennt das Wort „Metapher“ nicht, merkt aber, dass er im Alltag intuitiv die eine oder andere verwendet. Und als er Neruda gegenüber sagt: „Aber die ist doch nichts wert; sie ist mir ja ganz zufällig herausgerutscht“, antwortet der Lyriker: „Kein Bild kommt einem zufällig.“ (Seite 27)
So sind es es denn auch – von Neruda inspirierte oder direkt übernommene – Metaphern, mit deren Hilfe Mario das Herz von Beatriz öffnet. Erst sagt er ihr, ihr Lächeln entfalte sich wie ein Schmetterling, dann zitiert er direkt Nerudas „Gedicht 15“ aus den Veinte poemas de amor y una canción desesperada (20 Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung):
Nackt bist du so natürlich wie eine deiner Hände,
glatt, irdisch, klein, vollkommen, transparent,
Mondlinien hast du, Apfelwege,
nackt bist du wie der nackte Weizen schlank.
Nackt bist du wie die Nacht auf Kuba blau,
hast Ackerwinden und Sterne in deinem Haar,
nackt bist du unerhört und gelb
wie in einem goldnen Kirchenraum der Sommer. (Seite 72)
Als Neruda den Postboten auf dieses Plagiat anspricht, antwortet der: „Die Poesie gehört nicht dem, der sie schreibt, sondern dem, der sie benutzt.“ (Seite 77)
Poesie stellt Skármeta also als etwas sehr Lebensnahes, Zugängliches, Alltagstaugliches und Demokratisches dar, mag sie auch – wie die Verse Nerudas – teilweise abstrakt klingen. Er portraitiert Neruda als Dichter des Volkes, der Menschen aller Bildungsschichten einen intuitiven Zugang zu seinem Werk eröffnet.
Neruda: Ein Dichter des Volkes
Andersherum zeigt Skármeta die Verwurzelung von Nerudas Werk in deren alltäglichem, oft unbewusst lyrischem Sprachgebrauch auf. Der Roman legt vielen seiner Figuren, „einfachen Leuten aus dem Volk“, eine kräftige, bildhafte und durchaus als poetisch zu bezeichnende Sprache in den Mund, häufig in Form von gewitzten Sinnsprüchen, wie dem oben genannten Marios oder typischerweise in den Redensarten von dessen garstiger Schwiegermutter, der Wirtin Doña Rosa.
Sie verkündet zum Beispiel: „Ist der Vogel satt, fliegt er auf und davon“ (Seite 84) oder: „Jedes Schwein frißt die Kleie, die ihm schmeckt“ (Seite 104). Und auf volkstümliche Art philosophisch klingt der Dorf-Telegrafist, der, von Doña Rosa zur Definition eines Materialisten aufgefordert, antwortet: „Ein Materialist ist jemand, der, wenn er zwischen einer Rose und einem Hähnchen wählen soll, immer das Hähnchen wählt“ (Seite 94).
Man merkt, stilistisch schreibt Skármeta sehr aufs drollige Bonmot hin. In seinem Text wimmelt es vor witzigen Formulierungen. Das lässt die Leser*innen oft lächeln und lachen, vereinzelt kann es aber auch mal etwas dick aufgetragen wirken. Skármeta schreckt auch nicht vor Derbheit, Zoten und Stereotypen zurück.
Ohne Zweifel sehr gekonnt sind Skármetas sprühende, pointenreiche, schnelle Dialoge, denen man die filmische Entstehungsgeschichte des Romans anmerkt. Wie er in seinem Erinnerungsbuch Mein Freund Neruda berichtet, entwarf er die Geschichte des Postmanns Mario zwar zunächst als Teil eines monumentalen Roman-Projekts, gliederte sie dann aber in Form eines Drehbuchs für eine chilenische Produktion aus dem Jahr 1976 aus. Auf dieser Basis wiederum entstand das Buch Mit brennender Geduld in seiner vorliegenden Form. Es wurde 1994 von Regisseur Michael Radford mit Philippe Noiret in der Rolle des Neruda erneut verfilmt und in dieser Version zum Welterfolg mit fünf Oscar-Nominierungen.
Zeithistorischer Hintergrund
Was im Roman allerdings noch deutlicher und authentischer ist als im Film, ist die zeitgeschichtliche Einbettung und die politische Dimension, die dem Werk über den äußeren Anschein einer leichten, volkstümlichen Komödie hinaus Tiefe verleiht. Mit brennender Geduld spielt in den Jahren vor und während der Präsidentschaft des Sozialisten Salvador Allende. Pablo Neruda war zuvor als Kandidat der Kommunisten ebenfalls ins Rennen um die Präsidentschaft eingestiegen, zog sich jedoch zugunsten Allendes zurück.
Nach dessen Wahlsieg 1970 wurde der Dichter als Botschafter nach Paris entsandt, kehrte jedoch aus gesundheitlichen Gründen bald in sein Heimatland zurück – kurz nachdem ihm 1971 der Nobelpreis verliehen worden war. Pablo Neruda starb am 23. September 1973 im Alter von 69 Jahren, zwölf Tage nach dem Militärputsch unter Führung des Generals Augusto Pinochet. Offizielle Todesursache war sein Krebsleiden, doch die These, er sei auf Befehl der neuen Machthaber ermordet worden, steht bis heute im Raum.
Die Geschichte der Freundschaft zwischen dem Dichter und dem Briefträger steht somit sinnbildlich für das kurze Aufblühen eines demokratischen, sozialen Chile, das für breite, ärmere Bevölkerungsschichten Würde, Hoffnungen und Perspektiven eröffnete. Einen Mann aus dem Volk wie Mario und seine Gefühle mittels der Poesie zu nobilitieren, auf eine höhere Stufe zu heben, die bis dahin nur privilegierten Schichten vorbehalten war, ist in diesem Zusammenhang natürlich auch ein hoch politischer Akt.
Doch genauso wie der politische Enthusiasmus jener Jahre durch den Militärputsch Augusto Pinochets grausam und jäh beendet wurde, endet auch Skármetas zuvor so überbordender Roman mit Ernüchterung. Die politische Realität erstickt die Poesie und die Utopie.
Antonio Skármeta selbst verließ nach dem Militärputsch 1973 das Land. Sein Weg führte ihn nach West-Berlin. Nach dem Ende der Präsidentschaft Pinochets und zum Beginn des Übergangs zur Demokratie kehrte Skármeta 1989 nach Chile zurück. Von 2000 bis 2003 vertrat er sein Land als Botschafter in Deutschland. Sein persönliches freundliches und lebensfrohes Auftreten und seine ebensolchen Romane wie Mit brennender Geduld kann man auch als eine Art von Sieg über die politische Verfolgung und die bleierne Militärdiktatur betrachten.
- Antonio Skármeta, Mit brennender Geduld, Aus dem chilenischen Spanisch von Willi Zurbrüggen, Piper Taschenbuch, 160 Seiten, 12 Euro.
Ergänzende Leseempfehlungen:
- Antonio Skármeta, Mein Freund Neruda. Begegnungen mit einem Dichter, Aus dem Spanischen von Petra Zickmann, Piper, 224 Seiten, 19,95 Euro.
- Pablo Neruda, Ich bekenne, ich habe gelebt. Memoiren, Deutsch und mit einem Nachwort von Curt Meyer-Clason, Sammlung Luchterhand, 480 Seiten, antiquarisch erhältlich.
- Pablo Neruda, In deinen Träumen reist dein Herz. Einhundert Gedichte, Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Fritz Rudolf Fries, Luchterhand, 224 Seiten, antiquarisch erhältlich.
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