Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, Kika, Alles über meine Mutter, Volver: Das sind nur einige der Werke des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar, die in die Filmgeschichte eingegangen sind. Ich verfolge sein Schaffen mehr oder weniger, seit ich vor gut 30 Jahren als Abiturient im Spanisch-Leistungskurs meine Facharbeit über sein Kinoschaffen schrieb. Seinerzeit schaute ich mir seine anarchischen frühen Arbeiten wie Labyrinth der Leidenschaften, Womit hab‘ ich das verdient oder Das Kloster zum heiligen Wahnsinn im Instituto Cervantes in München an und ließ mich von der Movida madrilena faszinieren, der sexuell freizügigen und tabubrechenden Kulturbewegung der 1980er-Jahre als Antwort auf die rigiden Franco-Jahre in Spanien. Längst ist Almodóvar Oscar-prämiert und weltweit als markante Größe des Kinos etabliert. Und er macht bis heute großartige Filme. Erst kürzlich habe ich mir sein Melodram Julieta von 2016 angesehen und war gleich wieder gefangen von Almodóvars unverkennbarer Erzählweise und Bildsprache.
Allergie gegen Autobiographie
Und nun also gibt es (wieder) einen Almodóvar zum Lesen. Schon das Cover macht klar, dass Almodóvar-Fans auch in Buchform bekommen, was sie aus dem Kino lieben: Die kräftigen Primärfarben Rot und Blau auf dem Cover sowie Gelb im Farbschnitt ähneln der Ästhetik, in der Almodóvar gerne die knalligen Interieurs seiner Filme gestaltet. Dazu gibt’s einen Blumentopf in Pink, dem man eine Sonnenbrille aufgesetzt hat, sodass sich gemeinsam mit einem Buschen Blüten daraus minimalistisch, aber unverkennbar das stilisierte Konterfei Almodóvars ergibt. Das ist stylish, verspielt zwischen Kitsch und Ironie sowie (personen-)kultig – genau wie Almodóvars Streifen und sein Auftreten als öffentliche Figur. Und absolut würdig eines eigenen Adjektivs: almodovariano!
Der Verlag verspricht einen Band mit Zwölf Erzählungen, was es nicht ganz trifft. Almodóvar selbst stellt jedenfalls mit den ersten Sätzen des Vorworts klar, was Der letzte Traum nicht ist, nämlich die wohl von manchem Anhänger erwartete Autobiographie:
Mehr als einmal wurde ich gebeten, meine Autobiographie zu schreiben, doch ich habe mich jedes Mal geweigert. Es wurde auch vorgeschlagen, sie von jemand anderem verfassen zu lassen, aber der Gedanke an ein Buch, das allein von mir als Person spricht, löst nach wie vor eine Art allergische Reaktion in mir aus. (Seite 11)
Das ist ja eigentlich sehr sympathisch, obwohl natürlich auch ich eine Almodóvar-Biographie durchaus gerne lesen würde. Womit wir Fans uns in Der letzte Traum nun aber begnügen müssen, sind Einblicke in das künstlerische Universum Almodóvars in Form von fiktionalen Erzählungen, ergänzt durch eher essayartige Ausführungen über Musik, Filme und Bücher, die ihn beeinflusst oder ihm zumindest gefallen haben, und einzelne autobiographische Splitter.
Hommage an die Mutter
Letzterer Kategorie würde ich auch den zentralen Text zuordnen, der nicht ohne Grund dem ganzen Band seinen Titel gibt. In „Der letzte Traum“ skizziert Almodóvar auf gerade einmal sechs Seiten den Abschied von seiner Mutter. Auch wenn er dabei nicht ins Detail geht, handelt es sich um die berührendsten Passagen des Buchs, weil man das Gefühl hat, dem Menschen hinter dem Starregisseur relativ nahe zu kommen. Gleichzeitig ist das Verhältnis zur Mutter ein wichtiger Aspekt, der Almodóvar auch als Künstler definiert. Man denke nur an die vielen starken Frauenfiguren in seinen Filmen. Und er selbst führt aus:
Ich habe viel von meiner Mutter gelernt, ohne dass sie oder ich es gemerkt hätten. Ich habe etwas Entscheidendes für meine Arbeit von ihr gelernt, den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion und dass die Wirklichkeit durch die Fiktion ergänzt werden muss, um das Leben leichter zu machen. (Seite 109)
Almodóvar erzählt, wie die Mutter im Dorf in der Extremadura den analphabetischen Nachbarn Briefe vorlas und dabei so manches dazuerfand, um den Adressaten Freude zu bereiten, etwa, wie die Absenderin sich angeblich immer an die Großmutter erinnere und vermisse, wie sie ihr die Haare kämmte. Es geht unter die Haut, wenn der Filmemacher die Hommage an seine erste Lehrmeisterin im Geschichtenerzählen mit seinem vollen Namen Pedro Almodóvar Caballero unterzeichnet. Die Mutter hatte stets bedauert, dass er in der Öffentlichkeit den Nachnamen der Mutter, Caballero, weglässt.
Die Person Almodóvar ist auch in der Geschichte „Erinnerung an einen leeren Tag“ zu erleben. Hier erfahren wir, was der Maestro an einem faden Gründonnerstag so an Kultur konsumiert und was ihn womöglich inspiriert. Ja, bei so einer prominenten Figur der modernen Kulturgeschichte ist es durchaus interessant zu wissen, dass er sich eine Serie über Andy Warhols Tagebücher ansieht oder die französische Schriftstellerin Leila Slimani schätzt. Von intimen Einblicken in sein Seelenleben würde ich hier aber nicht sprechen.
Patty Diphusa als Alter Ego
In „Ein schlechter Roman“ reflektiert Almodóvar übers Schreiben:
Früher, als ich jung war, lag mein Ehrgeiz darin, Schriftsteller zu werden, einen großen Roman zu schreiben. Mit der Zeit hat die Wirklichkeit mir gezeigt, dass das, was ich schrieb, zu kleinen Filmen auf Super 8 und später zu Spielfilmen wurde, die im Kino ausgestrahlt wurden und Erfolg hatten. Ich begriff, dass diese Texte keine literarischen Erzählungen, sondern Skizzen von Drehbüchern waren. (Seite 216)
Diese Beschreibung trifft wohl auch auf einige der fiktionalen Texte in Der letzte Traum zu, ob der Stoff nun am Ende tatsächlich filmisch umgesetzt wurde oder nicht. In der Erzählung „Der Besuch“ lässt sich unschwer der Nukleus des Films Die schlechte Erziehung erkennen: Eine lasziv gekleidete Frau stellt in einer Klosterschule einen Pater wegen des Missbrauchs an ihrem Bruder zur Rede. Es stellt sich heraus, dass es sich beim angeblichen Bruder um sie selbst handelt, die mittlerweile ihre geschlechtliche Erscheinung geändert hat.
In „Bekenntnisse eines Sex-Symbols“ hören wir der Stimme der „professionellen Schlampe“ Patty Diphusa zu, ein Alter Ego Almodóvars, das meines Wissens bislang als Roman- und Bühnenfigur durch sein Werk geisterte, aber mit Sicherheit auch in mancher Filmfigur eine weitere Verkörperung fand.
Genie bei der Arbeit
Andere Erzählungen scheinen auf den ersten Blick so gar nichts mit dem Almodóvar-Universum zu tun haben. Und doch vermitteln etwa die düstere Vampirgeschichte „Die Spiegelzeremonie“ oder die Nacherzählung der Passionsgeschichte aus der Perspektive des mit Jesus gekreuzigten Räubers Barrabas in „Die Erlösung“ Ahnungen vom kulturellen Hintergrund des franquistischen, katholischen Spaniens, der in Almodóvars Werk verborgen mitschwingen mag.
An seine Grenzen als Erzähler stößt Almodóvar meiner Meinung nach in der Erzählung „Leben und Tod von Miguel“. Die Idee, ein Leben rückwärts mit dem gewaltsamen Tod als Beginn und der Geburt als Ende zu erzählen, hat zwar Charme. Doch Almodóvars Version davon zeugt nur davon, wie schwierig es doch ist, so einem Konstrukt auch Leben und Logik einzuhauchen. Dazu bräuchte es dann doch größere Meister.
Nein, einen Platz unter den ganz großen Literaten erschreibt sich Almodóvar mit Der letzte Traum nicht ganz. Und doch ist der Band lesenswert, denn man kann darin einem künstlerischen Genie über die Jahrzehnte – die Texte entstanden zwischen 1967 und 2022 – bei Kreativprozessen, beim Experimentieren, bei der Inspiration und beim Reflektieren zusehen. Der letzte Traum ist herrlich schräg, macht über weite Strecken Spaß und ist ein weiterer Mosaikstein im Gesamtwerk eines Künstlers, der die Ästhetik einer Generation geprägt hat.
- Pedro Almodóvar, Der letzte Traum. Zwölf Erzählungen, Aus dem Spanischen von Angelica Ammar, S. Fischer, 224 Seiten, 24 Euro.