Zwei sehr unterschiedliche Bücher der italienischen Autorin Michela Murgia (1972-2023) haben mich auf jeweils eigene Art und Weise in Beschlag genommen. Ihr bekanntestes Werk ist ihr Roman Accabadora aus dem Jahr 2009, in dem sie ein archaisches Sardinien auferstehen lässt. Als politische Aktivistin lernen die Leser*innen Michela Murgia dagegen in der bitter-ironischen Streitschrift Faschist werden von 2019 kennen. Beide Facetten des Schaffens dieser Autorin überzeugen.
Eine traditionelle Sterbehelferin in Sardinien
Fragt mich nicht, warum, aber: Romane, die eine vormodern anmutende, ländliche Lebenswelt beschreiben, üben immer wieder eine Faszination auf mich aus. Das gilt auch für den eindringlichen kurzen Roman Accabadora, der in Sardinien spielt. Seine besondere Anziehungskraft liegt in einer geheimnisvollen, halb mythischen Frauenfigur, die zudem an existenzielle Fragen rührt. Denn bei der titelgebenden Accabadora handelt es sich um eine traditionelle Sterbehelferin.
Inhaltlich hat der Roman verschiedene Aspekte. Zum einen handelt es sich um eine Mutter-Tochter-Geschichte. In diesem Fall verbindet die beiden Protagonistinnen eine Art Wahlverwandtschaft. Die kinderlos gebliebene, verwitwete Schneiderin Bonaria Urrai nimmt das sechsjährige Mädchen Maria bei sich auf. Die leibliche Mutter ist durchaus erfreut, von der Last, als die sie ihr viertes Kind empfindet, befreit zu werden. Maria wird Bonarias fill’e anima, die Seelen- oder Herzenstochter. Und es wird bald klar, dass genau diese Seelenverbindung ein engeres Band bedeutet als die biologische Herkunft. Bonaria vermittelt dem Kind Werte, Bildung und Geborgenheit – alles, was ihm in seiner Ursprungsfamilie verwehrt geblieben wäre.
Doch es gibt ein Geheimnis, das diese innige Vertrautheit stört: Immer wieder kommt es vor, dass Bonaria Urrai nachts heimlich das Haus verlässt. Erst spät wird die herangewachsene Maria verstehen, was ihre Ziehmutter dann in der Dunkelheit treibt. Sie hilft Sterbenden, den letzten schweren, aber ersehnten Schritt zu tun und die Schwelle zum Tod zu überschreiten.
Zwischen Tradition und Moderne
Eingebettet ist diese Grundkonstellation in eine Schilderung der von Traditionen, strengen Regeln und auch Aberglauben geprägten Lebensweise in einem ländlichen Umfeld in den 1950er-Jahren auf Sardinien. Es ist eine Welt, in der die Macht des modernen Staates allenfalls als abzulehnende Bedrohung von außen betrachtet wird. Das Zusammenleben wird durch überlieferte Normen geregelt, schonungslos überwacht durch die dörfliche Sozialkontrolle. Das gilt für die sozialen und familiären Beziehungen, etwa Totenwachen sowie Eheanbahnungs- und Hochzeitsrituale, genauso wie für die Aufteilung und Abgrenzung der landwirtschaftlichen Felder. Atmosphärisch dicht und plastisch erweckt Michela Murgia diese Welt zum Leben.
Mit ihren Worten setzt sie einer Lebensrealität ein Denkmal, die vermutlich mittlerweile verschwunden ist. Die Autorin tut das ohne Nostalgie, ohne zu verurteilen, aber auch ohne zu verklären. Ich habe es mit etwas wie einem ethnologischen Interesse gelesen, wobei es Murgia keineswegs sachlich-distanziert referiert, sondern es im Gegenteil versteht, ihre Szenen mit einem sanften mystischen Schauer aufzuladen.
Die Perspektive des Romans ist genau wie die seiner beiden Protagonistinnen Bonaria und Maria die eines Dazwischenstehens. Die sardischen Überlieferungen und Traditionen bilden so etwas wie die Ursuppe, aus der sie stammen, und doch haben sie sich durch ein aufgeklärteres, moderneres Denken schon davon emanzipiert.
Bonaria etwa legt Wert darauf, dass ihre Ziehtochter Schulbildung erhält – was die leibliche Mutter für eine überflüssige Kapriole hält – und darauf, dass das Mädchen Italienisch lernt und damit eine Perspektive erhält, die sie über die Grenzen Sardiniens und den vorgegebenen Lebensentwurf im Dorf hinausführen kann. Maria wiederum hat für den ängstlichen Aberglauben ihres Freundes Andría ob des Besuchs der toten Seelen in der Nacht von Allerheiligen nur Spott übrig.
Existenzielle ethische Fragen
Andererseits füllt Bonaria als Accabadora eine Rolle aus, die sich jenseits der kirchlichen und staatlichen Gesetze ganz im traditionellen Gerüst althergebrachter lokaler Sitten bewegt. Das bringt sie letztlich auch in Konflikt mit Maria, die bei der Erkenntnis, dass ihre Ziehmutter Menschen tötet, schockiert ist.
Die Tätigkeit der Accabadora steht freilich nicht nur im Spannungsfeld von Tradition und Moderne, sondern wirft auch eine zeitlose existenzielle ethische Frage auf: Inwieweit ist es legitim, das Leiden Sterbender durch menschliches Eingreifen zu verkürzen? Sind dafür allgemeingültige Regeln möglich, und wo sind diese gegebenenfalls missbrauchsanfällig?
Insofern ist Michela Murgias Roman thematisch sehr vielschichtig und interessant. Die Autorin breitet ihren Stoff in einer mitreißenden, plotgetriebenen Erzählung aus. Auf relativ wenigen Seiten bringt sie viel Handlung unter. Dadurch liest sich der Roman schnell weg, ohne sich groß mit Beschreibungen und Reflexionen aufzuhalten. Einerseits ist es ja gut, letztere dem Leser zu überlassen, andererseits hätte ich mir vielleicht manchmal sogar etwas mehr Zeit zum Innehalten gewünscht.
Die Sprache des Romans ist bildhaft und einfach und orientiert sich vermutlich an mündlichen Erzähltraditionen. Bei einigen Passagen hat man förmlich eine Stimme im Ohr, die mit viel Emphase spricht. Für meinen Geschmack könnte es ruhig reduzierter und weniger blumig sein,und ich finde, das eine oder andere Bild, das Murgia verwendet, kratzt ein bisschen am Kitsch. Es ist auch möglich, das manches durch die Übersetzung einen künstlichen Ton bekommt, in Einzelfällen auch schief wirkt, was im Italienischen ganz natürlich klingt. Das schmälert die Lesefreude aber nur geringfügig.
Bitter-ironische Analyse rechter Strategien
Auf jeden Fall hat Accabadora mich genügend für die Autorin interessiert, um gleich noch zu einem zweiten Buch von ihr zu greifen, und zwar zu dem Essay Faschist werden. Eine Anleitung. Darin analysiert Michela Murgia – diesmal übrigens sprachlich schnörkellos und glasklar – viele rechte Denkmuster, Argumentationsweisen sowie Strategien, wie sie uns heute leider allenthalben auf der Welt begegnen.

Auch wenn Murgia vieles bezogen auf ihr Heimatland Italien durchspielt, ist das meiste als globales Phänomen und auch in seinen Erscheinungsformen in Deutschland wiederzuerkennen. Treffend beschreibt sie etwa, wie durch die massenhafte Dummschwätzerei in den Sozialen Medien jede ernst zu nehmende demokratische Debatte geschwächt wird; wie die Geschichte gezielt umgedeutet und nicht ins Weltbild passende Fakten in Zweifel gezogen werden; wie im Diskurs durch gezielte Tabubrüche Grenzen des Sagbaren verschoben werden; und wie sich Komplexe und Schwächen der Menschen ausnutzen lassen, um sie zum Faschismus zu verführen, ohne ihnen tatsächliche Hilfe zuteilwerden zu lassen.
Und wem kommt das hier aus der aktuellen Politikberichterstattung bekannt vor?
Wenn dir die religiösen Institutionen Beifall spenden, verhalte dich konform zur Doktrin „unserer Wurzeln“. Doch wenn sie sich gegen dich stellen, behandle sie so, wie du alle Feinde behandelst: Greife sie an, indem du auf ihre Interessen hinweist, und zeige mit dem Finger auf ihre Schwachstellen. (Seite 58)
Murgias spezieller literarischer Kniff in dem Text: Sie spricht mit der Stimme eines Faschisten, der den Leser von seinen Denkweisen überzeugen und in der Durchsetzung eines faschistischen Gesellschafts- und Staatssystems unterweisen will. Das hat einerseits Züge einer Parodie, zielt aber auf noch etwas anderes ab. Denn Murgia will sich und die Leser nicht nur in Selbstgewissheit wiegen, sondern dafür sensibilisieren, dass jeder anfällig für verführerische faschistische Muster sein kann. Sein Ziel erreicht das Buch dann, wenn wir in seinen Zeilen nicht nur die üblichen verdächtigen Politiker wiedererkennen, sondern in einigen Punkten auch uns selbst – und dabei bestenfalls erschauern und uns hinterfragen.
Auch wenn der Text aus dem Jahr 2019 stammt, wirkt er weiter topaktuell – leider mehr denn je, denn ganz konform mit Murgias Schilderung hat der Faschismus seither in vielen Ländern seine Position stark ausgebaut.
Sehr traurig ist der frühe Tod Michela Murgias am 10. August 2023, wenige Monate, nachdem in Italien Giorgia Meloni, Vorsitzende der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia, die Regierung übernahm. Die starke Stimme der Antifaschistin Michela Murgia würde heute dringender gebraucht denn je – auch bei uns.
- Michela Murgia, Accabadora, Aus dem Italienischen von Julika Brandestini, Verlag Klaus Wagenbach, 176 Seiten, 13 Euro.
- Michela Murgia, Faschist werden. Eine Anleitung, Aus dem Italienischen von Julika Brandestini, Verlag Klaus Wagenbach, 72 Seiten, 10 Euro.
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