Was prägt den Menschen, was bestimmt seinen Lebensweg, wodurch entstehen seine sozialen Bindungen? Welche Rolle spielt dabei die biologische Abstammung, welche das soziale Milieu, in dem man aufwächst? Solche Fragen wirft die italienische Autorin Donatella Di Pietrantonio (geb. 1963) in ihrem Erfolgsroman Arminuta von 2017 auf. Sie erzählt darin von einem Mädchen, das als Baby von entfernten Verwandten aufgenommen wurde und als Jugendliche den Schock erlebt, in ihre Herkunftsfamilie zurück zu müssen. Arminuta ist ein gut unterhaltendes, warmherziges Buch, das ohne höhere literarische Ambitionen auskommt, den Leser aber auch nicht unterfordert.
Kulturschock beim Kontakt mit der leiblichen Familie
Der Roman spielt in den 1970er-Jahren in den Abbruzzen. Die mittlerweile erwachsene Ich-Erzählerin berichtet rückblickend von der Lebensphase, die sie nach eigenen Worten am stärksten geprägt hat. Es handelt sich um das Jahr, in dem das damals 13-jährige Mädchen jäh aus seinem vertrauten Umfeld in der gehobenen Mittelschicht in einer Stadt am Meer – vermutlich Pescara – herausgerissen wird.
Mit einem hastig gepackten Koffer liefert sie der Mann, den sie bisher „Vater“ nannte, in einem heruntergekommenen Wohnhaus auf dem Dorf ab. Ohne dass man dem Mädchen eine Erklärung gibt, soll es fortan bei seinen leiblichen Eltern leben, die es einst in die Obhut kinderloser wohlhabender Verwandter gegeben hatten. Für das Mädchen ist es ein Kulturschock: Statt in der liebevollen Geborgenheit und sozialen Sicherheit, die sie kannte, findet sie sich nun wieder inmitten von Armut, Enge, Schmutz und sozialer Verwahrlosung. Weder ihre leiblichen Eltern noch die fünf Geschwister – darunter ein Kleinkind – scheinen auf sie gewartet zu haben. „Arminuta“, ein Dialektwort für „die Zurückgekehrte“ oder „Zurückgegebene“, wird im Dorf zu ihrem spöttisch gemeinten Spitznamen.
Sachte und feinfühlig macht Donatella Di Pietrantonio erlebbar, wie das Mädchen trotz seines Unverständnisses und seiner innerlichen Weigerung, diese neue Lebensrealität anzunehmen, doch unweigerlich emotionale Bande zu diesen ihr fremden Menschen knüpft. Zuvorderst wird ihre jüngere Schwester Adriana zu ihrer engsten Bezugsperson. Mit ihr muss sich die Arminuta anfangs das Bett teilen – wobei Adriana Nacht für Nacht die Matratze einnässt. Es gehört zu den schönsten und berührendsten Entwicklungen des Romans, wie die sozial und intellektuell vermeintlich unterlegene Adriana zum Ende zu einer heimlichen Heldin wird. Insofern lässt sich Arminuta auch als Hommage an die Verbindung zweier Schwestern über gesellschaftliche Grenzen hinweg lesen.
Verbotene Liebe des eigenen Bruders
Die Verbindung der Arminuta zu ihrem älteren Bruder Vincenzo hingegen ist durchsetzt von einer immer weniger latenten erotischen Spannung. Auch hier findet Di Petrantonio die richtigen Worte und Bilder, um die Widersprüchlichkeit zwischen den erwachenden Gefühlen des pubertierenden Mädchens und dem Schrecken vor dem Verbotenen spürbar werden zu lassen. Die Gegensätzlichkeit zwischen dem braven gutbürgerlichen Mädchen und der Outlaw-Figur Vincenzo, hinter dessen rauer Fassade ein sensibler Kern durchscheint, macht die Autorin für eine flirrende Liebensgeschichte fruchtbar, deren offensichtliche Aussichtslosigkeit ihr eine tragische Dimension einschreibt.
Am subtilsten aber zeichnet Di Pietrantonio das Verhältnis zwischen der Zurückgekehrten und ihrer leiblichen Mutter. Letztere wirkt zu Beginn ausgesprochen abgestumpft, sogar roh. Mit der Zeit aber scheint doch zumindest die Möglichkeit auf, dass sie unter der Trennung von ihrem Kind gelitten haben könnte. Und als die Arminuta in der Schule gute Leistungen zeigt und sich damit für den Übertritt an eine höhere Schule empfiehlt, zeigt die Mutter auf ihre spröde Art so etwas wie Stolz, von dem man als Leser nicht weiß, ob man ihr das Recht dazu einräumen soll.
Den Spannungsbogen über die gesamte Romanhandlung bildet dabei die unbeantwortete Frage, warum die soziale Mutter der Ich-Erzählerin das Kind so plötzlich „zurückgegeben“ hat und darüber hinaus nun jeglichen Kontakt vermeidet. So viel sei verraten: Die Vermutung des Mädchens, eine schwere Erkrankung der Adoptivmutter stehe dahinter, trifft nicht zu. Ob die Auflösung, die uns Di Pietrantonio am Ende präsentiert, in dem ansonsten psychologisch so stimmigen Roman gänzlich überzeugt, darüber lässt sich jedoch streiten.
Soziale Gegensätze im Italien der 1970er
Was der Autorin in jedem Fall sehr gut gelingt, ist die Zeichnung sozialer Gegensätze und von deren Einfluss auf die Chancen des Individuums. Die Ich-Erzählerin lernt, Gräben zwischen Stadt und Land, Reich und Arm, Bildung und Mangel daran auf einer menschlichen Ebene zu überwinden. Und doch lässt sich ein tief verwurzeltes Klassenbewusstsein nicht ausmerzen. Sie kann nicht vermeiden, sich in bestimmten Situationen für ihre Geschwister zu schämen: dafür, wie sie sprechen, wie sie sich kleiden und benehmen. Nach einem vermeintlich unbeschwerten Besuch am Strand in der Stadt meint sie beim Aufbruch, „hinter uns ein allgemeines Aufatmen zu vernehmen“ (Seite 67), weil Adriana und Vincenzo offenbar eine unsichtbare soziale Grenze überschritten haben und in der Welt des Freizeittreibens der städtischen Mittelschicht als Fremdkörper aufgefallen sind.
Wir ahnen: Während die Arminuta später studieren und (zurück) in höhere gesellschaftliche Sphären aufsteigen wird, wird ihren Geschwistern diese Perspektive verwehrt bleiben. Und es versetzt einem einen Stich, daran zu denken, dass dieser Unterschied zu einem großen Teil auf den Zufall zurückgeht, dass eine Schwester rechtzeitig ihrem Ursprungsmilieu entrissen wurde und ihre Geschwister nicht.
Donatella Di Pietrantonios Erzählweise ist ruhig und empathisch, dabei freilich unterm Strich konventionell. Ihre Sprache ist unangestrengt und flüssig und liest sich sehr angenehm, auch weil die Autorin sich um keine besonderen Kapriolen oder erzwungenen Bilder bemüht. Arminuta ist ein gut konsumierbarer, stilsicherer und kluger Roman, der zum Mitfühlen, aber auch Mitdenken einlädt. Thematisch allerdings hat man Sinnverwandtes auch schon bei Elena Ferrante oder Michela Murgia gelesen, sodass mir an Di Pietrantonios Roman ein wenig das markante Alleinstellungsmerkmal fehlte. Was nichts daran ändert, dass ich Arminuta ausgesprochen gern gelesen habe.
- Donatalla Di Pietrantonio, Arminuta, Aus dem Italienischen von Maja Pflug, dtv, 224 Seiten, 12 Euro.
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