Home

Knapp 80 Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen. Dennoch: In Geschichtswissenschaft und Literatur sind noch immer nicht alle Folgen aufgearbeitet. Insbesondere die Schicksale von Frauen gerieten häufig in Vergessenheit. Wie die jener Norwegerinnen, die als „tyskerjenta“ oder „tyskertøs“ (Deutschenmädchen oder -schätzchen) gravierenden Diskriminierungen ausgesetzt waren, weil sie sich mit Besatzungssoldaten der Wehrmacht eingelassen hatten. Ihnen widmete die Journalistin Trude Teige 2015 einen Roman, der nun unter dem Titel Als Großmutter im Regen tanzte mit einigen Jahren Verspätung in Deutschland zum Bestseller wurde. Den ernsten historischen Stoff präsentiert die Autorin in Form eines leicht lesbaren, emotionalen, aber bisweilen auch allzu treuherzigen Unterhaltungsromans.

Rehabilitierung der „Deutschenmädchen“

Der Blick auf die sogenannten „tyskerjenta“ hat sich in der norwegischen Gesellschaft erst in den vergangenen Jahren grundlegend gewandelt. Laut Schätzungen könnten es um die 50.000 norwegische Frauen gewesen sein, die sich in der Zeit der Besetzung des Landes durch die Nazis in der einen oder anderen Form mit deutschen Soldaten einließen. Aus diesen Beziehungen gingen etwa 12.000 Kinder hervor – aus Sicht der NS-Rassenideologie durchaus erwünschter „arischer“ Nachwuchs, aus Sicht der Norweger Früchte der Schande und des Verrats. Die betroffenen Frauen wurden ausgegrenzt, mitunter eingesperrt. Man schnitt ihnen die Haare ab und entzog ihnen die Staatsbürgerschaft. Etwa 70 Jahre später, 2018, entschuldigte sich die damalige norwegische Regierungschefin Erna Solberg öffentlich für das zugefügte Unrecht. Die meisten damaligen „tyskerjenta“ waren da bereits verstorben.

Die Hauptfigur von Als Großmutter im Regen tanzte gehört nun einer geschätzt 2000 bis 3000 Personen umfassenden Untergruppe der „tyskerjenta“ an: denjenigen Frauen, die mit ihren deutschen Ehemännern 1945 Norwegen in Richtung Deutschland verließen. Im Roman ist es die junge Tekla, die aus Liebe diese Entscheidung trifft. Sie hat gegen Ende des Zweiten Weltkriegs den deutschen Soldaten Otto kennengelernt und sich in ihn verliebt. Ihre Umwelt und vor allem ihre Familie lehnen diese Beziehung strikt ab. Tekla aber begleitet ihren Otto beim Abzug der Wehrmacht in dessen Heimat nach Vorpommern.

Sehr lebendig beschreibt Teige diese desillusionierende Reise, die über Zwischenstationen in prekären Lagern in ein völlig zerstörtes Deutschland führt. Tekla und Otto kommen nicht wie erträumt auf einem intakten, herrschaftlichen Familienlandgut an, in dem sie sich ein gemeinsames Leben aufbauen können. Das Anwesen ist vielmehr von russischen Soldaten besetzt. Das ankommende junge Paar erfährt, dass Russen die Frauen der Familie vergewaltigt haben. Ottos Mutter hat sich daraufhin das Leben genommen – so wie es in jenen Tagen offenbar hunderte weitere Menschen in der Kleinstadt Demmin getan haben.

Größter Massensuizid der deutschen Geschichte

Der Massensuizid von Demmin ist ein weiteres weniger bekanntes Thema aus der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte, das Trude Teige in ihrem Roman aus dem Schatten der Vergessenheit holt. Zwischen dem 30. April und dem 4. Mai 1945 nahmen sich vermutlich mehrere hundert bis über 1000 Zivilisten das Leben, töteten teils auch Familienmitglieder in Form eines erweiterten Suizids. Die vorrückende Rote Armee hatte den Ort eingenommen. Die Soldaten zogen teils marodierend, plündernd und vergewaltigend durch die Straßen. Motiv für den mutmaßlich größten Massenselbstmord der deutschen Geschichte war nach Einschätzung von Historikern wohl eine Mischung aus Verzweiflung, Angst, durch nationalsozialistische Propaganda angeheizte Hysterie, Scham und moralischem Zusammenbruch im Angesicht der militärischen Niederlage Deutschlands. Das furchtbare Ereignis ist auch im Kontext einer Welle von Selbsttötungen im gesamten damaligen Reichsgebiet zu sehen. Auf einem Gedenkstein ist ein Zitat aus dem Tagebuch einer Demminer Lehrerin zu lesen, das den Sachverhalt gut trifft: „Freitote, am Sinn des Lebens irre geworden.“

Doch zurück zur Handlung von Trude Teiges Roman: In weiterer Folge kämpft die inzwischen schwangere Tekla darum, in ihre Heimat zurückzukehren. Doch da ihr als vermeintlicher Landesverräterin der norwegische Pass entzogen wurde, gestaltet sich das alles andere als einfach.

Parallel zu jenen Ereignissen der Vergangenheit erzählt Trude Teige einen weiteren Handlungsstrang, der in der heutigen Zeit spielt. Teklas Enkelin Juni flüchtet sich vor ihrem gewalttätigen Partner in das Haus der mittlerweile verstorbenen Großeltern auf einer kleinen Insel an Norwegens Küste. Als sie dort ein Foto ihrer Großmutter mit einem deutschen Soldaten findet, macht sie sich auf Spurensuche – assistiert von einem netten Nachbarn, mit dem sich eine Romanze anbahnt. Ihre Mutter Lilla kann Juni nicht mehr nach den streng gehüteten Familiengeheimnissen fragen, denn die ist ebenfalls bereits tot. So machen sich Juni und der einfühlsame Georg sogar auf den Weg nach Deutschland, um mehr über Teklas Geschichte herauszufinden.

Schwerer Stoff, allzu leicht erzählt

Was ist die geeignete literarische Form, was der geeignete Stil, um einen so schweren historischen Stoff zu verarbeiten? Trude Teige tut es in einem leicht konsumierbaren Unterhaltungsroman mit romantischen Elementen ohne großen Anspruch. Gerade in der Rahmenhandlung erinnert das manchmal fast an Rosamunde Pilcher und bietet genau das, was der kitschige Titel Als Großmutter im Regen tanzte erwarten lässt. Die Autorin will offensichtlich niemanden überfordern. Damit keiner durcheinanderkommt, sind zum Beispiel die Kapitel, die in der Jetzt-Zeit spielen, von denen aus dem Jahr 1945 typografisch unterschieden – ich fühle mich durch so etwas eher intellektuell beleidigt.

Feiner ausgearbeitet sind dabei die Kapitel mit Teklas Geschichte. Ich müsste lügen, wenn ich behauptete, ich hätte das ungern gelesen. Trude Teige erzählt zwar mit einfachen, konventionellen Mitteln, das aber effektiv. Die Handlung ist spannend und weckt Emotionen, das ist nicht zu leugnen.

Insofern: Ja, es ist völlig okay. Eine Autorin hat etwas Interessantes und Wichtiges zu sagen. Und sie wählt dafür eine Form, die für die Leser*innen niedrigschwellig ist, ihnen Atempausen und kurzweilige Lesestunden vergönnt und ein breites Publikum anspricht. Der ernste Stoff verhindert von allein, dass der Roman ins Banale abgleiten würde.

Die besten Passagen sind die plastischen und unmittelbaren Beschreibungen des zerstörten Nachkriegs-Deutschland. Tekla und Otto kommen zuerst mit dem Schiff in Kiel an, dann geht es weiter nach Hamburg. Sie sehen Städte, in denen kein Stein mehr auf dem anderen steht, die nach Fäkalien riechen, weil die Kanalisation zerstört ist, in denen Menschen konfus und unbehaust zwischen Trümmern Dinge zusammensammeln. Auf der Zugfahrt Richtung Demmin beobachtet Tekla, wie Menschen sich auf den Kadaver eines Pferdes stürzen, um ein Stück Fleisch davon abzuschneiden.

Naive Perspektive aufs Nachkriegs-Deutschland

Etwas gestört haben mich hingegen einige Stellen, die die Situation im Nachkriegs-Deutschland aus einem stark vereinfachenden Blickwinkel betrachten. Trude Teige wählt dafür die Perspektive einer naiven jungen Frau. Beim Blick auf die zerbombten Städte und das Leiden der Menschen gehen Tekla folgende Gedanken durch den Kopf:

In diesem Moment musste sie an etwas denken, das ein norwegischer Soldat in Mandal gesagt hatte: Die Deutschen leiden mindestens ebenso wie wir, der Unterschied ist nur, dass sie sich das selbst eingebrockt haben.

Überall sah sie Resignation, Verbitterung und Gleichgültigkeit in den Gesichtern der Menschen. Sie hatten niemand anderen, auf den sie ihre Wut richten konnten, denn die Katastrophe war ihre eigene Schuld.

Aber dieses kleine Mädchen kann doch nichts dafür, dachte Tekla. (Seite 139 f.)

Diese Reflexionen sind bestimmt nicht falsch. Doch lassen sich das moralische Dilemma, welche Zwecke im Krieg welche Mittel und Folgen rechtfertigen, sowie Fragen von kollektiver oder individueller Schuld natürlich nicht so schlicht und einfach in ein paar Sätzen wegwischen.

Trude Teige greift noch weitere komplexe historische Themen auf, denen sich der Roman meiner Meinung nach nicht wirklich gewachsen zeigt. Das gilt etwa für die Schilderung von Entnazifizierungsprozessen im Nachkriegs-Berlin, denen Tekla als zufällige Zuschauerin beiwohnt. Da werden allzu schnell und klischeehaft verschiedene Typen von (notgedrungenen) Mitläufern und Denunzianten vorgeführt – und Trude Teige reißt wiederum in wenigen Sätzen Fragen auf, die eine weit differenzierte Betrachtung verdienen.

Vielschichtig ist auch eines der Hauptthemen des Buches, der Massensuizid von Demmin. Ja, es ist wichtig und gut, dass ein breitenwirksamer Roman dieses Geschehen aus dem Vergessen holt – ein Thema, das, wie zu vermuten steht, in der DDR nicht zuletzt aus politischen Gründen totgeschwiegen wurde. Es gab einfach kein Interesse, die russische Armee als eine Horde brutaler Vergewaltiger dastehen zu lassen, die unschuldige deutsche Frauen in Scharen in den Selbstmord trieben.

Wer die damaligen Vorgänge aber aufgreift, braucht Fingerspitzengefühl, denn so einfach bewerten lassen sich Täter- und Opferrollen eben auch nicht. Wie missbrauchsanfällig das Thema ist, zeigt sich daran, dass zum „Gedenken“ an jene schlimmen Tage – beziehungsweise an eine Version davon, die ihnen zupasskommt – bis heute Neonazis durch Demmin marschieren.

Blick auf das Leid der Zivilisten gerichtet

Eines muss man Trude Teige lassen: Sie erliegt nicht der Gefahr einer einseitig bewertenden Darstellung, tritt in kein Fettnäpfchen und bemüht sich um eine differenzierte Darstellung. Und doch denke ich, dass ihr Roman etwas zu sehr an der Oberfläche bleibt und viele Fragen rund um das rätselhafte Phänomen eines kollektiven Suizids offen lässt. Es hätte eigentlich komplexerer literarischer Mittel und tiefergehender Reflexionen bedurft, um sich den historischen Ereignissen angemessen zu nähern.

Dazu ein kleiner böser Verdacht: Ist Als Großmutter im Regen tanzte vielleicht auch deswegen ein Bestseller in Deutschland, weil hier eine Autorin von außen die Deutschen, zumindest auf der individuellen, menschlichen Ebene, im Kontext der Nachkriegszeit historisch ohne große Schuldzuweisungen betrachtet, ihnen auch eine oft verwehrte Opferrolle zugesteht und auf schwierige Fragen einigermaßen beruhigende, unzweideutuge Antworten liefert?

Andererseits sie hat ja Recht: Im Krieg sind es die Zivilisten, die das Leid zu tragen haben. Diese Feststellung ist leider aktuell wieder von höchster Aktualität. Trude Teige lenkt die Aufmerksamkeit auf diejenigen, die sich sonst, wenn überhaupt, im Randbereich der öffentlichen Wahrnehmung befinden. Viel bewegt hat sie damit offenbar insbesondere im Hinblick auf die Rehabilitierung der „Deutschenmädchen“ in ihrem Land.

  • Trude Teige, Als Großmutter im Regen tanzte, Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob, Fischer, 384 Seiten, 22 Euro.

Hinterlasse einen Kommentar