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Barock, Romantik, Realismus, Surrealismus, Moderne, Postmoderne… Nach diesen und vielen mehr Epochen scheint die Weltliteratur an einem Punkt angekommen zu sein, an dem es nur mehr wenig grundlegend Neues zu entdecken gibt. Vor diesem Panorama nimmt der Argentinier César Aira eine Sonderstellung ein. Er schreibt auf eine völlig eigenständige und innovative Art und Weise Romane, wie sie zumindest mir noch nicht untergekommen sind. Zwei davon habe ich nun hintereinander gelesen. Es werden sicher nicht die letzten sein, denn ich bin dadurch ein „Aireano“ im Anfangsstadium geworden.

César Aira schrieb schon über 100 Romane

Einen einzelnen oder auch zwei herausgepickte Romane von César Aira vorzustellen, ist wahrscheinlich gar nicht unbedingt sinnvoll. Ich versuche trotzdem, anhand von Die Nächte von Flores, das ich in der deutschen Übersetzung von Klaus Laabs gelesen habe, und La cena – im spanischen Original enthalten im Sammelband Diez novelas de César Aira, in deutscher Übersetzung unter Titel Das Abendessen erhältlich – meine ersten Eindrücke wiederzugeben.

Um sich wirklich ein Bild vom Schaffen César Airas zu machen, müsste man aber wohl mehr lesen. Der 1949 in Colonel Pringles geborene und in Buenos Aires lebende Autor veröffentlicht nämlich seit Anfang der 1990er-Jahre jährlich drei bis vier seiner Kurzromane mit typischerweise um die 100 Seiten. Laut dem Vorwort von Juan Pablo Villalobos zu besagtem Sammelband überschritt Aira im Jahr 2018 die Marke von 100 veröffentlichten Romanen. Eine isolierte Geschichte innerhalb dieser enormen Vielzahl ist sicherlich bei Weitem nicht so aussagekräftig wie ein Eintauchen in den viel umfangreicheren Kosmos eines eigenen Genres, das César Aira seinen Lesern anbietet. Ich habe den Verdacht: Der regelmäßige Konsum von Aira birgt hohes Suchtpotenzial.

Der erste Kontakt mit diesem Autor ist allerdings durchaus irritierend. Ein Buch von Aira irgendwann in die Hand zu nehmen und verzweifelt oder verärgert in die Ecke zu werfen, wäre eine natürliche Reaktion.

Gegen die Einbahnstraßen durch Flores

Nehmen wir zum Beispiel Die Nächte von Flores. Der Roman beginnt eigentlich mit einem nachvollziehbaren, realistischen Setting im Buenos Aires zur Zeit der Wirtschaftskrise Anfang der 2000er-Jahre. Um sich die magere Rente aufzubessern, nimmt das ältere Ehepaar Aldo und Rosa einen Nebenjob bei einem Lieferservice auf. Doch statt wie ihre jungen Kollegen mit dem Moped durch die Straßen des Stadtteils Flores zu düsen, bringen die beiden Senioren die Pizzen zu Fuß zu den Kunden. Gleichzeitig wird das Viertel von der Ermordung eines entführten Jugendlichen erschüttert.

Entwickelt sich von hier aus eine Krimihandlung, ein Sozialdrama, eine gesellschaftskritische Analyse eines krisengeschüttelten Landes, ein Gesellschaftsportrait anhand der Kunden des Pizzaservices? Derlei konventionelle Erwartungen führt César Aira rasch ad absurdum. Zunächst verstrickt er den Leser in Gedankenspiele über die besondere, mathematisch ausgeklügelte Wegführung des Ehepaares durch das schachbrettartig angelegte Viertel, dann über die Routen der Mopedhorde, die prinzipiell ausschließlich entgegen der Einbahnstraße unterwegs ist.

Zwischen Surrealismus und Comic

Plötzlich heftet sich nun ein etwa einen Meter großes, impertinent daherredendes Wesen, eine Mischung aus Fledermaus und Papagei, an die Fersen des Ehepaars. Und mit einem Mal wendet sich die Handlung gänzlich anderen Protagonisten zu, vor allem dem Chefermittler im Fall des entführten Jugendlichen sowie einem Möchtegern-Schriftsteller aus Venezuela, der gerade bei diesem zu Gast und nebenbei in Machenschaften im Literaturbetrieb verstrickt ist.

Alle paar Seiten nimmt die Handlung also eine gänzlich unerwartete Wendung. Vieles entpuppt sich als vollkommen anders als gedacht. Vor allem vom Bild des anfangs so liebevoll portraitierten Rentnerpaars lässt der Roman nichts übrig. Es tun sich abstrus wirkende Verästelungen auf, die Grenzen von Realismus, Surrealismus, intellektueller Reflexion, comicartiger Groteske und Groschenroman verschwimmen. Viele Fäden bleiben am Ende lose in der Luft hängen. Eine Nacherzählung ist ebenso aussichts- wie sinnlos.

Das Abendessen der Untoten in der Provinz

Vergleichsweise nachvollziehbar und strukturiert wirkt daneben La cena, auch wenn die fantastischen Handlungselemente hier noch ausgeprägter sind. Das titelgebende Abendessen findet zunächst ganz konventionell im Kreis des etwa 60-jährigen Ich-Erzählers, dessen Mutter – bei der er, wirtschaftlich gescheitert, wieder hat Unterschlupf hat suchen müssen – sowie eines Freundes statt. Letzterer und Muttern widmen sich eifrig dem Klatsch unter Aufzählung etlicher Namen aus dem Kleinstadtkosmos von Coronel Pringles, wobei sich der Ich-Erzähler aufgrund seines fehlenden Namensgedächtnisses ausgeschlossen fühlt.

Der Kurzroman wirkt hier noch wie eine satirische Studie über die Enge und soziale Kontrolle der Provinz, bis auch diese Geschichte eine krasse Wendung nimmt. Im zweiten Kapitel verfolgt der Ich-Erzähler eine live ausgestrahlte Reality-Show im Fernsehen, die statt des üblichen samstäglichen Nachtlebens ein grauenvolles Geschehen überträgt: Am örtlichen Friedhof entsteigen die Toten ihren Gräbern.

Sie stürzen sich auf die Lebenden und öffnen deren Schädel, um daraus Endorphine herauszusaugen. Nun geht es also um eine andere, äußerst morbide cena. Der Roman ergeht sich ausführlich in der genussvollen Ausschmückung dieser Zombie-Apokalypse in Stil eines zweitklassigen Horrorfilms, ergänzt um feine Ironie und gnadenlose Konsequenz. Alle erzählerisch aufwendig aufgebauten Versuche der Bewohner von Coronel Pringles, dem Ansturm der Untoten-Armee zu entkommen, scheitern sang- und klanglos.

Eine intellektuelle Freude

Was ist nun mit diesen exaltierten Plots anzufangen? Klassische Leserinteressen – wie, sagen wir, Spannung, Erkenntnisgewinn, psychologische Identifikationsangebote – werden hier gewiss nicht bedient. Für mich vermittelt Aira stattdessen eine pure intellektuelle Lesefreude.

Intellektuell soll aber keineswegs heißen, dass es sich um sperrige, abstrakte Kunst handeln würde. Seine Kurzromane sind nicht schwer zu lesen. Die Sprache ist außerordentlich klar, die Gedanken nachvollziehbar – wenn sie auch oft unerwartete Wege gehen. Der Reiz am Lesen von Aira liegt mit in dem großen Ideenreichtum, in der ständigen Überraschung. Man schüttelt praktisch auf jeder Seite den Kopf – ob aus Erstaunen, Unverständnis oder Bewunderung, das ist sicher individuell verschieden.

Sehr oft musste ich über Airas mit größter Selbstverständlichkeit vorgetragene Volten lachen. Die Texte sind reich an schönen, unkonventionellen Gedanken, an treffenden Beobachtungen, geistigen Spielereien. Ich habe mich gern vom Autor an die Hand nehmen und durch ein Labyrinth der Fantasie führen lassen.

Abgrenzung vom lateinamerikanischen Boom

Airas Texte sind auch Literatur-Literatur. Sie spielen mit Konventionen aus Hoch- und Populärkultur. Vermutlich funktionieren sie innerhalb des argentinischen Kontextes besser als für deutsche Leser. Es ist kein Muss, kann aber nicht schaden, eine ungefähre Idee von Jorge Luis Borges, Julio Cortázar oder auch im weiteren lateinamerikanischen Umfeld von Gabriel García Márquez zu haben, um ein Gefühl dafür zu bekommen, worauf Aira teils aufbaut, womit er spielt, wogegen er aber auch anschreibt.

Von „Boom“-Autoren wie eben García Márquez, Mario Vargas Llosa oder Carlos Fuentes hat sich Aira scharf abgegrenzt. Auch wenn sich bei Aira deren Gratwanderung zwischen Realismus und Fantasie durchaus wiederfindet, sind seine kurzen, schwebenden, verrückten Texte das Gegenteil der monumentalen, bedeutungsschweren Großromane der Großmeister. Carlos Fuentes scheint es ihm nicht übel genommen zu haben, denn er erhob seinen Kollegen laut Klappentext der mir vorliegenden Ausgabe der SZ-Bibliothek in den Stand des voraussichtlich „ersten argentinischen Nobelpreisträgers“.

Romane wie Jazz-Improvisationen

Treffend ist der Vergleich von Airas Werken mit Jazz-Improvisationen. Es sieht so aus, als ob er zu Beginn des Schreibprozesses nicht wirklich wüsste, worauf sein Text hinauslaufen soll. Sein Schaffensprozess wurde als eine Art von „Écriture automatique“ beschrieben, also als freies Fließen von Gedanken, Assoziationen und Ideen aufs Papier. Selbst sagte Aira in einem Interview, sein Schreiben gleiche einer Improvisation, aber einer „Improvisation in Zeitlupe“ – denn spontan passiere dabei gar nichts.

Auch Humor und Ironie, die ich beim Lesen durchaus wahrgenommen zu haben glaube, bestreitet der Autor selbst übrigens. Wer beim Lesen seiner Erzählungen lache, dem fehle schlicht die Liebe zur Fantasie. Seine Romane sind dem Schriftseller zufolge „Märchen für Erwachsene“ (Quelle: https://www.lanacion.com.ar/cultura/cesar-aira-yo-doy-por-terminada-mi-vida-nid09102021/). Lesen sieht er als Weltflucht, wie ein jüngst auf Deutsch erschienener Essay-Band von Aira betitelt ist.

Aus der Enge des Alltags entfliehen kann man mit Aira-Romanen jedenfalls und sich in losgelöste Sphären des Geistigen, der Kunst, der Geschichten begeben. Ob man dabei Spaß hat oder einfach nur ratlos zurückbleibt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Aufregend – ob nun im guten oder im schlechten Sinne – sind seine Geschichten allemal.

  • César Aira, Die Nächte von Flores, Aus dem argentinischen Spanisch von Klaus Laabs, Lizenzausgabe der Süddeutschen Zeitung GmbH für die Süddeutsche Zeitung Bibliothek, Reihe Metropolen: Buenos Aires, 158 Seiten, 8,90 Euro.
  • César Aira, La cena, enthalten in: Diez novelas de César Aira, Seleccionadas y prologadas por Juan Pablo Villalobos, Literatura Random House, 528 Seiten.
  • Erhältlich auch in deutscher Übersetzung: César Aira, Das Abendessen, Aus dem Spanischen von Christian Hansen, Bibliothek César Aira, Matthes & Seitz, 127 Seiten, 18 Euro.

4 Kommentare zu “César Aira im Doppelpack: „Die Nächte von Flores“ und „Das Abendessen“

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