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Die größte und unglaublichste Geschichte zu diesem Buch spielt eigentlich außerhalb des Textes. Die handelt von einem späten Triumph über eine Diktatur. Die Schriftstellerin Helga Schubert war 1980 eingeladen, bei den „Tagen der deutschsprachigen Literatur“ in Klagenfurt zu lesen und damit um den Ingeborg-Bachmann-Preis zu konkurrieren, erhielt damals jedoch keine Ausreisegenehmigung aus der DDR. 40 Jahre später dann – die DDR war längst untergegangen – bekam Helga Schubert eine neue Gelegenheit. Als älteste Teilnehmerin aller Zeiten trug sie bei dem Wettbewerb einen Text vor. Und sie gewann den Ingeborg-Bachmann-Preis 2020.

Schon allein vor diesem Hintergrund war die literaturinteressierte Öffentlichkeit vermutlich neugierig, was es mit dieser so ungewöhnlichen Preisträgerin auf sich hat. Schön, dass dieser Aufmerksamkeitsschub ein Buch ins Rampenlicht und auf die Bestsellerliste gebracht hat, das es sonst vielleicht schwer gehabt hätte, ein großes Publikum zu finden. So aber hat ein leises, feines und gar nicht mal so eingängiges Buch eine Chance bekommen, seine Leserschaft zu finden und offenbar auch anzurühren.

Ein deutsches Leben in 29 Geschichten

Vom Aufstehen besteht aus 29 kurzen, teils sehr kurzen autobiografischen Erzählungen, Skizzen, Vignetten… wie immer man sie nennen mag. Aus den Fragmenten setzt sich im Ganzen eine Art Lebenserzählung zusammen. Der Leser erfährt – nicht immer präzise, niemals chronologisch -, dass Helgas Vater im Krieg fiel, als sie noch ein Säugling war; dass die Mutter sich im Krieg mit ihrem Kind aus Berlin zu Verwandten nach Hinterpommern in Sicherheit brachte; dass sie von dort am Kriegsende wieder nach Berlin flüchten mussten. Helga Schubert berichtet von Alltagssituationen des Lebens in der DDR, etwa Szenen der Mangelwirtschaft, wie man mühsam ein paar Spargel oder etwas Aalhaut, wenn schon nicht -fleisch, auftrieb, oder auch westliche Bücher von Uwe Johnson. Es geht darum, wie Helga Schubert die Wiedervereinigung erlebte und danach das Leben in einem freien, demokratischen Staat wertschätzt; um ihr zurückgezogenes Leben mit dem im Alter pflegebedürftigen Ehemann in einem abgeschiedenen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern; um Begegnungen, Fastenkuren und ein Gespräch mit einer Pastorin.

Eine wichtige Rolle spielt das belastete Verhältnis zur Mutter. Die erkennt in Helga stets nur das Spiegelbild der verhassten – von Helga allerdings sehr geliebten – Schwiegermutter und begegnet ihr mit teils brutaler Lieblosigkeit. Sie könne sich nicht an das vierte Gebot halten, sagt Helga aufgewühlt zur Pfarrerin. Es sei ihr unmöglich, die Mutter zu lieben. Keine Sorge, entgegnet die pragmatische Geistliche. Das vierte Gebot besage nur, dass man die Eltern ehren solle. Von Liebe sei da keine Rede, die lasse sich nicht befehlen. Helga ist erleichtert, und bis die Mutter im Alter von 101 Jahren stirbt, hat sie eine Art Frieden mit ihr gefunden.

Versöhnlichkeit, Milde und Sanftheit zeichnen auch Helga Schuberts gesamtes Buch aus. Von der Unfreiheit in der DDR berichtet sie ohne Groll, aber auch ohne zu beschönigen und ohne es an Klarheit mangeln zu lassen. Wo es nötig ist, blitzt sanfter Spott durch. Helga Schubert berichtet von einem Leben in der DDR, ohne es auf ein DDR-Leben zu reduzieren. Diese Ambivalenz reflektiert sie selbst raffiniert, als sie mit der ihr eigenen feinsinnig-kritischen Haltung von der Anfrage eines westdeutschen Germanisten erzählt. Ob und inwiefern sie sich als DDR-Autorin begreife, will er wissen. Ihre kryptische Antwort: „Das alles nicht, nichts davon.“

Schwierige Beziehung zur Mutter

Kleine Sätze, die unspektakulär daherkommen, aber einiges nachhallen lassen, Nuancen und Pointen, die so fein sind, dass man sie auch leicht übersehen könnte, prägen Helga Schuberts Erzählton. Ich gebe zu, anfangs habe ich damit gefremdelt. Ich mag zwar leise Texte viel lieber als laute. Aber hier mäanderte beim ersten Lesen für mich vieles zu sehr vor sich hin. Mehr als einmal wusste ich nicht recht, worauf die Autorin hinauswollte. Ihr Stil ist von einer zurückgenommenen Poesie – und mit dem Poetischen hab ich’s ja nicht immer so. Viele von Helga Schuberts Sätzen sind darüber hinaus lang und biegen grammatikalisch dreimal um die Ecke. Das erleichtert den Zugang auch nicht gerade.

Doch dann, so nach und nach, passierte es mir auf unmerkliche und fast wundersame Weise, dass ich diese Erzählstimme lieb gewann. Für mich wurde Stück für Stück greifbarer, was für eine kluge, empathische und auch sehr nahbare Frau Helga Schubert ist. Eine, die über sich selbst schreibt, ohne sich selbst allzu wichtig zu nehmen, die kritisch denkt, ohne besserwisserisch zu werden, die Dinge klar benennt, ohne zu verurteilen. Und die sich abends wie wir alle vor den Fernseher setzt und die Tagesschau anschaut und dann vielleicht – wenn auch leicht befremdet – Let’s dance. Auch das sind Details, die sie einem vertraut und sympathisch erscheinen lassen.

Dazu kommt, dass zum Ende des Buches die stärksten Geschichten kommen. Die Schilderung der Mutter-Tochter-Beziehung bildet das Herzstück und beinhaltet die stärksten Passagen, die im Vergleich zu manchem vorangegangenen Mecklenburg-Vorpommern-Idyll den Leser endlich auch emotional stärker packen. Um sich von der eigenen Geschichte nicht überwältigen zu lassen, greift Helga Schubert hier zu dem Stilmittel, von sich selbst in der dritten Person als „Tochter meiner Mutter“ zu schreiben und so auf schützende Distanz zum Geschilderten zu gehen. Allein damit schafft sie es, deutlich zu machen, wie tief bei diesem Thema ihre Gefühle reichen, ohne dass sie dramatisieren muss.

Hinter der unscheinbaren Fassade lässt sich also doch viel erzählerische Könnerschaft entdecken. Und nachdem ich erst dachte, Vom Aufstehen würde mich kalt lassen, blicke ich jetzt doch voller Wärme auf die Lektüre zurück.

  • Helga Schubert, Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten, dtv, 224 Seiten, 12 Euro.

2 Kommentare zu “Helga Schubert, Vom Aufstehen

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