Mit seinem neuen Roman Melody stand der Schweizer Autor Martin Suter wochenlang auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller-Liste und mischt dort weiterhin ganz oben mit. Das ist dann auch schon das Spektakulärste, das man über dieses Buch berichten kann. Was sagt sein überwältigender Erfolg über die Lesevorlieben der Deutschen im Jahr 2023 aus? Vielleicht, dass sie dankbar einen Stoff aufnehmen, der zwar gepflegte Langeweile verbreitet, aber ihnen immerhin das Leben nicht noch komplizierter macht, als es ist, und keinerlei Anlass für Kontroverse oder zum Hinterfragen unseres gemütlichen Wohlstandsidylls gibt. Suter bedient diese Bedürfnisse hochprofessionell.
Angenehm weglesbar
Keine Frage: So klar, leicht und süffig wie Martin Suter schreibt aktuell kaum ein anderer. Ich erkenne das an. Es mag kunstlos aussehen, doch es ist alles andere als einfach, in so angenehm weglesbaren und ohne große Verrenkungen immer auf den Punkt kommenden Sätzen eine Geschichte zu erzählen. Das ist sicher ein Schlüssel dazu, dass Melody eine so große Leserschaft anspricht. Diesen Text kann wirklich jeder entspannt schmökern, ohne auch nur an einer Stelle stecken zu bleiben. Die Leser, die seit vielen Jahren die Texte des Schweizers konsumiert haben, wissen seinen eleganten und doch ungekünstelten Stil zu schätzen und greifen aus den guten Erfahrungen heraus begierig nach jedem neuen Suter auf dem Markt. Ja, selbst Suters bizarre Schweinsteiger-Romanbiografie Einer von uns verkaufte sich ja bestens – auch wenn der Fußball-Stoff in literarischen Kreisen dann doch etwas Naserümpfen hervorrief.
Das ist nun hier nicht mehr nötig – welch Erleichterung für die Suter-Fans! Melody ist erst einmal ein klassischer Liebesroman mit sanftem Thrill. Obwohl… „erst mal“, das klingt so, als gäbe es danach auf den zweiten Blick noch eine weitere Ebene zu entdecken. Das wird auch in vielen Buchbesprechungen behauptet. Eigentlich, so heißt es da, gehe es in Melody um das Spannungsverhältnis von Sein und Schein und über die Konstruiertheit von Bildern, die ein Mensch von sich nach außen verkauft. Ja, nun, mag sein. Aber tiefer, als ich es in diesem Absatz zusammengefasst habe, reicht es nicht. Suter hat den Roman auf eine bestimmte Weise aufgebaut, die es ihm ermöglicht, dem Leser interessante Wendungen zu präsentieren und ein Ende, das man so wirklich nicht kommen sieht. Das tut er sehr gekonnt. Da eine große Botschaft hineinzulesen, hielte ich aber für zu viel.
Der Roman führt uns in die Welt des Schweizer Geldadels, genauer in die Züricher Villa des ehemaligen Nationalrats Dr. Stotz. Am Ende seiner Tage – die Ärzte geben ihm noch ein Jahr – heuert er den Jura-Absolventen Tom an, um seinen Nachlass zu ordnen mit dem Ziel, der Nachwelt das erwünschte biografische Bild zu übermitteln. Tom erhält ein fürstliches Salär, inklusive Kost und Logis in der herrschaftlichen Villa.
Essen und Trinken spielen wichtige Rollen
Die Betonung liegt tatsächlich auf Kost, denn die Verpflegung spielt in dem Buch eine wichtige Rolle. Die italienische Köchin Mariella zaubert Tag für Tag die raffiniertesten Gerichte, wobei wir uns als Leser mit den klangvollen Namen als einzigem sinnlichen Eindruck begnügen müssen. Dazu kredenzt Dr. Stotz die edelsten Tropfen aus seinem Weinkeller. Auch hier muss uns die Nennung eines Jahrgangs genügen, um die Gaumenfreuden dahinter zu glauben. Nach dem Essen setzt man sich am Kamin beim Cognac zusammen. Bei diesen Gelegenheiten erzählt Dr. Stotz dem jungen Mann, was es mit der schönen Frau auf sich hat, deren von Herrn Nationalrat selbst in Öl gemalten Portraits überall im Haus hängen.
Wie wir aus den eingestreuten Erzählungen Stotz‘ erfahren, handelt es sich um eine Frau namens Melody. Stotz hat sie in den 1980er-Jahren kennen gelernt, als sie Buchhändlerin und er ihr Kunde war. Etwas mühselig muss sich der Leser zwischen den ausufernden Speisen- und Getränkeaufzählungen sowie dahinplätschernden Schilderungen, wie Tom diverse Papiere in Kartons sortiert, die konventionelle Romanze häppchenweise erschließen.
Der bereits mittelalte, reiche und einflussreiche Geschäftsmann macht also der kleinen, sich geheimnisvoll-zugeknöpft gebenden Schönheit den Hof. Allerdings erweist sich ihre marokkanische Herkunft als Hindernis, denn ihre traditionelle Familie lehnt eine Beziehung mit einem Nicht-Muslimen strikt ab. Melody – eigentlich Tarana, was auf Arabisch „Melodie“ bedeutet – zeigt sich jedoch entschlossen, mit ihrer Familie zu brechen und die Ehe mit dem Schweizer einzugehen. Doch drei Tage vor der anberaumten Hochzeit ist sie plötzlich verschwunden. Ihr ungeklärter Verbleib ist ein Rätsel und eine Bürde, an der Stotz den Rest seiner Tage zu tragen hat – nach eigener Darstellung zumindest.
Der Leser aber braucht keine Angst vor einem offenen Ende zu haben, mit dem manch intellektueller Roman sein Publikum quält und ihm eigenständiges Weiterdenken abverlangt. Hier ist eine restlose, befriedigende Aufklärung mit mehreren schönen Überraschungseffekten garantiert. Der rasante Schluss ist es denn wohl auch, der so manchen Leser das Buch mit einem wohligen Gefühl zuklappen und es weiterempfehlen lassen wird.
Probleme reicher Leute
Bis dahin aber habe ich mich persönlich gefragt, warum ich mich für diese vermeintlichen Probleme reicher Leute interessieren soll. Das Interieur einer Luxus-Behausung kann mich ebenso wenig faszinieren wie die Aufzählung der teuren Autos in der Garage. Kein Hauch von Kapitalismuskritik weht da durch die Zeilen. Die Schweiz darf sich ungeniert an ihrem durch die Vermögensverwaltung afrikanischer Diktatoren erlangten Wohlstand erfreuen.
Was Potenzial zu tiefergehenden menschlichen Konflikten und existenziellen Fragen hätte, handelt Suter lässig und schnell ab. Toms Vater hat sich umgebracht – das größte Problem daran ist offenbar, dass der Sohnemann erschrocken feststellt, dass man – huch! – sich einen Job suchen muss, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch da fällt ihm ja auch schon ein überaus hoch dotierter Vertrag in den Schoß, für den er eigentlich nur fressen, saufen und ein wenig zuhören muss. Mit keinem Wort aber macht Suter mir als Leser klar, was das viele Vertrauen und Geld rechtfertigt, das Stotz in Tom steckt.
Brisanz könnte das Thema der interkulturellen Liebesbeziehung haben. Doch auch hier erspart uns Suter jegliche Migrationsproblemwälzerei. Was es bedeutet, als Kind einer zugewanderten Familie in einem reichen Land wie der Schweiz aufzuwachsen, damit müssen sich die Leser von Melody nicht auseinandersetzen. Suter pickt sich dazu nur ein paar dramaturgisch nützliche Klischee-Versatzstücke heraus. Für die Liebe mit der eigenen Tradition und Familie brechen zu müssen wie Melody mag unschön sein – doch mein Mitleiden hält sich in Grenzen, wenn die betroffene Person dabei finanziell so extrem weich fallen würde. Beim Brautkleidkauf bei einem Pariser Designer lässt sich die Spannung zwischen den Identitäten dann wohl doch ganz gut ertragen.
Flucht ins Märchenhafte
Es ist gerade dieses Märchenhafte, das viele Leser an dem Roman gefallen mag. In Zeiten, in denen jedem einzelnen so viel zugemutet wird, ist das sicher tröstlich. Bei Suter müssen wir uns mal über den CO2-Ausstoß des Jaguar keine Gedanken machen. Mit welchen Machenschaften und Ausbeutungsmechanismen jemand zu seinem perversen Wohlstand gelangt ist, kann uns egal sein – im Grunde ist es doch ein netter, alter Herr. Und Butler und Köchin fügen sich so freudig in ihre dienenden Rollen, wie es selbst im Herrenhaus von Downton Abbey nicht der Fall war. Auch die Migration aus Teilen der Welt, in denen Menschen ganz andere Probleme haben, als welches hochprozentige Getränk man im Sitzen oder Stehen einnimmt, stellt den dekadenten Lebensstil nicht in Frage, sondern verwundert nur ein wenig durch archaische Strenge. Man kann auftamen: Weit und breit kein grüner Verbotspolitiker, der mit moralischen Vorhaltungen nervt.
Jedem Leser sei dieser (vorübergehende) Rückzug ins Züricher Idyll gegönnt. Ich lese dann weiterhin doch lieber Romane über illegale ukrainische Putzfrauen in Berlin oder den täglichen Überlebenskampf im Großstadtmoloch Lagos – weil es da alles in allem menschlicher zugeht.
- Martin Suter, Melody, Diogenes, 336 Seiten, 26 Euro.