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Mit dem Spanier Javier Marías hat Europa am 11. September 2022 einen seiner größten Schriftsteller der vergangenen Jahrzehnte verloren. Er starb neun Tage vor seinem 71. Geburtstag. Es ist unendlich traurig, daran zu denken, welche Werke er der Welt noch hätte schenken können, wäre ihm eine längere Lebenszeit beschieden gewesen. Dass er sich auf jeden Fall weiterhin auf der Höhe seiner literarischen Kraft befand, zeigt sein vorletzter Roman Berta Isla, erstmals veröffentlicht 2017. Das Buch hat alles, was einen typischen Marías ausmacht, wobei er hier nach meinen Empfinden die Intensität noch einmal gesteigert hat.

Berta Isla ist Agenten- und Eheroman

Es sind diese unvergesslichen Szenen und Situationsbeschreibungen, die – neben einigen anderen herausragenden Merkmalen – das Werk von Javier Marías kennzeichnen. Auch Jahre nach der Lektüre ist mir etwa im Gedächtnis, wie in Mein Herz so weiß der Protagonist zwischen Margaret Thatcher und Felipe González dolmetscht und den ausgetauschten Belanglosigkeiten durch kreatives Übersetzen eine ungeahnte Tiefe hinzufügt. Oder wie der Held von Morgen in der Schlacht denk an mich beim Schäferstündchen mit einer verheirateten Frau plötzlich mit dem Tod seiner Gastgeberin konfrontiert ist. Wie eine Frau in Die sterblich Verliebten täglich beim Frühstück in einer Bar aus der Distanz das Glück eines vermeintlich perfekten Paares beobachtet. Auch Berta Isla enthält einige solcher Abschnitte, denen Marías eine derartige innere Spannung verleiht, dass sie das Zeug zu ikonischen Momenten der Literatur haben.

Die Art der Spannung in Berta Isla ist dabei typisch und untypisch zugleich für das Genre des Romans. Es handelt sich um einen Agentenroman, ja, aber einen mit einem ungewöhnlichen Einsatz der Perspektiven und der Auslassungen. Das beginnt damit, dass die titelgebende Figur nicht etwa selbst spioniert, sondern die Ehefrau eines Agenten ist und letztlich keine Ahnung davon hat, was ihr Mann treibt, für wen und warum. Es ist gleichzeitig ein großer Liebes- und Eheroman, der uns eine Beziehung vorstellt, die extremen Belastungen ausgesetzt ist und doch nicht totzukriegen ist.

Doppelleben eines Agenten

Charakteristisch für Marías ist, dass er seine Protagonisten einmal mehr in der Mehrsprachigkeit speziell zwischen Spanien und Großbritannien ansiedelt. Berta Isla und Tomás Nevinson sind schon seit der Schulzeit am „Instituto Británico“ in Madrid ein Paar. Erstmals länger getrennt sind sie, als Tomás – er hat eine spanische Mutter und einen englischen Vater – zum Auslandsstudium nach Oxford geht (wo Javier Marías übrigens einst dozierte und auch seinen Roman Allerseelen spielen ließ). Weder Berta in Madrid noch Tom in Oxford nehmen es mit der Treue sehr genau – wobei für ihn eine Affäre verhängnisvolle Folgen haben wird.

Die Frau, mit der er sich eben noch vergnügte, liegt bald tot in ihrem Appartement (wem kommt diese Marías’sche Verknüpfung von Sex und Tod bekannt vor?), und Tom gerät unter Verdacht. Unter diesem Druck erpressbar geworden, lässt sich der hochbegabte, polyglotte Student mit dem einmaligen Talent, alle Akzente, Dialekte und Redeweisen nachzuahmen, für den – mit dem universitären Betrieb eng verwobenen – britischen Geheimdienst anwerben. In die Welt von MI5 und MI6 (oder wie sie heißen mögen) führte Marías übrigens früher schon in seiner Trilogie Dein Gesicht morgen.

Für Tomás Nevinson beginnt ein Doppelleben. In Madrid ist er der Bilderbuch-Familienvater mit einem drögen, aber angeblich höchst einkömmlichen Behördenjob im diplomatischen Dunstkreis. Unterbrochen wird dieser Alltag jedoch regelmäßig von längeren Abwesenheiten, offiziell Dienstreisen nach Großbritannien, während derer er seltsamerweise für seine Frau nicht erreichbar ist. Welche Missionen sich dahinter verbergen, in welche Abgründe er dabei blickt und welche moralischen Grenzen im Dienste welcher Sache er wohl überschreitet: Berta Isla tappt diesbezüglich im Dunkeln. Und auch der Leser hat nur leise Ahnungen. Der Rest bleibt seiner Fantasie überlassen. Den Spionageteil seines Agentenromans verlagert Javier Marías also ins Ungesagte. Am Agentendasein interessieren ihn hier die Aspekte des Schweigens, der Geheimnisse, auch der ethischen Zerrissenheit, die Tomás zunehmend zeichnet, auch wenn wir nie erfahren, was konkret es ist, das ihn quält.

Der Großteil des Romans begleitet derweil Berta, die mit zwei Kindern in Madrid auf die Rückkehr ihres Mannes wartet. Oft Tage und Wochen. Bis seine Abwesenheit einmal gar kein Ende mehr zu nehmen scheint. Hat es mit den Falklandkrieg zu tun? Jahre ziehen ins Land, ohne Antwort.

Javier Marías‘ virtuose Sprache

Marías erzählt die Geschichte des Paars auf seine höchst charakteristische Art: in Szenen, in denen er aufs Präziseste jedes Detail einfängt. Dazu gehören viele äußerliche Details, Mimik, Blicke, vor allem aber jede kleinste Gefühlsregung der Figuren und ein enormer Gedankenreichtum. So braucht Marías oft viele, viele Seiten, um die Atmosphäre eines Ortes, die kleinen Gesten eines Menschen und alles, was in seinem Kopf vor sich geht, zu beschreiben.

Um all das mit seiner Komplexität und seinen Nuancen auszuformulieren, benutzt Marías typischerweise auch sehr lange Sätze, die oftmals sogar verschiedene Varianten oder das Ringen und Kreisen um die treffendste Formulierung beinhalten. Dieses virtuose Spiel, das auch die Schwierigkeit der sprachlichen Annäherung an einen bestimmten Inhalt widerspiegelt und gleichzeitig höchste Präzision erlaubt, hat Marías in anderen Romanen aber schon exzessiver betrieben. In Berta Isla, so mein Gefühl, hat er sich da zu Gunsten einer besseren Lesbarkeit schon etwas eingebremst. Trotzdem brauchen Marías‘ Schilderungen weiterhin eine konzentrierte Lektüre. Dann aber üben sie einen enormen Sog aus. Und es entstehen – in aller Langsamkeit – so plastische und reiche Bilder, dass man sie nicht vergessen kann.

Hommage an Madrid

Das gilt in Berta Isla etwa für ein Anbahnungstreffen von Tomás Nevinson mit seinem künftigen Führungsoffizier Bertram Tupra – eine exquisit-sinistre Figur – in einem Buchladen. Lebhaft vor Augen habe ich auch die Begegnung Berta Islas in den Madrider Jardines de Sabatini mit einem eigenartigen Paar, bei dem durchscheint, dass sich hinter seiner Jovialität dunkle Absichten verbergen. Das bestätigt sich bald in einer besonders perfiden Bedrohung Bertas durch eben jenes Paar in ihrer eigenen Wohnung, bei der das Spiel mit einem Feuerzeug eine besondere Bedeutung erlangt. Eine Passage, die man – auch wenn sie so weit entfernt wie nur irgend denkbar von jeder Agententhriller-Action ist – mit angehaltenem Atem liest.

Großartig und wirkungsvoll setzt Marías auch räumliche Perspektiven ein. Etwa wenn Berta von ihrem Balkon an der Calle de Pavía aus auf Baumkronen, die Straße und den Platz blickt – meist in Erwartung der Ankunft ihres Mannes. Einmal beobachtet sie von hier aus auch einen – allerdings mittlerweile ziemlich aus dem Leim gegangenen – Ex-Liebhaber, mit dem sie sich nach vielen Jahren wieder verabredet hat und der in einem Straßencafé auf sie wartet. Vergeblich.

Bei den vielen Hommagen an Straßen und Plätze im Zentrum Madrids fühlte ich mich wohlig in diese geliebte Stadt hineinversetzt. Speziell bei letzterer Szene sprangen meine Gedanken aber auch zurück zur Lektüre von Mein Herz so weiß, das eine ähnliche, höchst einprägsame Szene enthält, nämlich die Beobachtung einer wartenden Frau von einem Hotelbalkon in Havanna aus. Durch seine Referenzen auf frühere Romane wird Berta Isla auch zu so etwas wie zu einer Zusammenfassung von Marías‘ Werk. Hier finden sich viele seiner großen Motive und Themen wieder.

Javier Marías‘ Tod an den Folgen von Covid 19 kam unerwartet. Dass Berta Isla zusammen mit dem ergänzenden Pendant-Roman Tomás Nevinson zu seinem Vermächtnis werden sollte, kann er eigentlich nicht geahnt haben. Oder doch?

  • Javier Marías, Berta Isla, Aus dem Spanischen von Susanne Lange, Fischer Taschenbuch, 672 Seiten, 16 Euro.

Eine Rezension von Berta Isla und dem Pendant Tomás Nevinson findet sich auf der Seite Arcimboldis World. Ebenso empfehlenswert ist die Besprechung von Berta Isla auf Travel Without Moving.

2 Kommentare zu “Javier Marías, Berta Isla

    • Vielen Dank, das freut mich, denn ich wünsche Javier Marías postum viele Leser!
      Mit dem Hinweis auf die Verquickung von Sex und Tod meinte ich die weiter oben in meiner Rezension erwähnte Szene aus „Morgen in der Schlacht denk an mich“. Marías variiert also auch hier ein Motiv, das in seinem Werk früher schon mal vorkam.
      Von mir war das wohl etwas zu verrätselt formuliert, danke für den Hinweis!

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