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Ein abgelegenes Haus am See, mitten in der Natur, endlose Sommer, Vater, Mutter, Kinder: Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein perfektes schwedisches Ferienidyll, das Alex Schulman in seinem Roman Die Überlebenden entwirft. Tatsächlich aber verbreitet er in dieser Kulisse ein ständiges Gefühl von Unwohlsein, schleichender Kälte und Unausgeglichenheit. Denn es handelt sich um das feinsinnige Portrait einer Familie und ihrer emotionalen Schieflagen. Schulman zeigt subtil, wie Eltern, ohne wirklich „böse“ zu sein oder im Einzelnen etwas Schlimmes zu tun, sondern eher aus Überforderung mit sich selbst eine Art von seelischer Gewalt ausüben, von der man ahnt, dass ihre Kinder ein Leben lang daran zu tragen haben werden.

Mein einziger Kritikpunkt: Der Autor hätte sich auf die Stärke seiner Analyse einer durchschnittlichen und alltäglichen Familie verlassen sollen. Einen – freilich erzählerisch bewundernswert aufgebauten – inhaltlichen Knalleffekt, den es zum Schluss gibt und der alles noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lässt, hätte der Roman meines Erachtens nicht nötig gehabt. Denn auch so schon hätte der Text genügend Abgründe geborgen.

Schleichende Kühle im Sommerurlaub

Die Überlebenden setzt sich aus zwei sich abwechselnden Erzählsträngen zusammen. Der eine besteht aus einzelnen Episoden aus den Sommerurlauben der Familie in besagtem Haus am See. Während Mama und Papa großteils träge in Sonnenstühlen sitzen und sich zwischendurch immer wieder mal hinlegen müssen, schlagen die drei Söhne Nils, Benjamin und Pierre mehr oder weniger die Zeit tot. Dabei führt die emotionale Unfähigkeit und Selbstbezogenheit der Eltern, in der auch ihr Alkoholkonsum eine entscheidende Rolle spielt, immer wieder zu beklemmenden Situationen, für die Alex Schulman sehr eindringliche, starke Bilder findet.

Die drei Buben sind offensichtlich bedürftig nach der Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern, doch die sind unfähig, einmal von sich selbst abzusehen und sich in ihre Kinder hineinzuversetzen. Dabei ist gerade der Vater immer wieder bemüht, für gute Stimmung zu sorgen und die Kinder mit kleinen Aufgaben bei Laune zu halten und ihnen Selbstwertgefühl zu vermitteln, stößt dabei aber schnell an seine eigenen Grenzen.

Da schickt er die Buben etwa los zu einem Schwimmwettkampf im See. Nils, Benjamin und Pierre stürmen los, merken aber nach einer Zeit, dass sie sich zu viel vorgenommen haben und das Wasser zu kalt ist. Das Wettschwimmen wird fast zu einem Überlebenskampf, in dem sie sich in ihrer Not solidarisieren und sich gleichzeitig für die Anerkennung des Vaters abstrampeln. Doch als sie erschöpft dem Wasser entsteigen und sich Lob oder Mitgefühl abholen wollen, sind die Eltern längst ins Haus gegangen, der Vater ist mit dem Abwasch beschäftigt.

Emotionale Verwahrlosung in der Familie

Die Mutter wiederum schwankt zwischen übertriebenen Liebesbekundungen, egozentrischer Überempfindlichkeit und Machtausübung durch sinnlose Strafaktionen, wenn sie nicht gerade durch physische wie geistige Abwesenheit glänzt. In der Isolation des Sommeridylls – das Sommerhaus ist ausschließlich über eine zugewachsene Traktorspur erschlossen – brodelt so ein Familienbiotop, wie es viele gibt: in einem zerbrechlichen Gleichgewicht, in dem es vor allem an den Kindern liegt, sich auf die Schwächen und Launen der Eltern einzustellen, statt umgekehrt, wie es sein sollte.

Erst außerhalb dieses abgeschirmten Kosmos ihrer persönlichen Normalität merken die Buben und die Leser unterschwellig, dass sie nicht nur Opfer einer emotionalen Vernachlässigung sind, sondern auch soziale Verwahrlosung hineinspielt. Im Winter müssen sie in der Schule in ihren viel zu dünnen Jacken frieren, und der Lehrer macht sie auf ihre mangelnde Körperpflege aufmerksam.

Der zweite Erzählstrang schildert, wie die drei erwachsenen Brüder zum See zurückkehren, um dort die Asche der Mutter zu verstreuen. Den Tag, an dem das passiert, gibt Schulman in Sequenzen wieder, die er in umgekehrter chronologischer Reihenfolge anordnet. Er erzählt sozusagen „rückwärts“ vom Abend bis zum Morgen – eine erzähltechnische Spielerei, bei der ich mir nicht ganz schlüssig bin, ob sie in erster Linie dazu dient, die Könnerschaft des Autors unter Beweis zu stellen, oder ob es die innere Spannung des Textes steigert. Zwingend notwendig fand ich diesen Kniff jedenfalls nicht.

Was Eltern ihren Kindern antun können

Sehr gut gefallen hat mir jedenfalls, wie fein Schulman das Familiengefüge austariert, alles in der Schwebe lässt und doch gut nachvollziehbar macht. Er trifft keine Schuldzuweisungen, lässt durchscheinen, dass die Eltern wohl selbst mit den Umständen ihres Lebens zu kämpfen haben und es Gründe gibt, aus denen sie gegenüber den Bedürfnissen ihrer Kinder so stumpf geworden sind. Letztlich zeichnet er sie selbst als Opfer am Rand der Gesellschaft.

Dabei lässt er jedoch keinen Zweifel daran, dass er Partei für die Kinder ergreift, die den Umständen, in denen sie aufwachsen, ausgeliefert sind, auf denen wegen der Unreife der Eltern eine unangemessene Verantwortung lastet, und die dennoch zunächst einmal lieben, ohne zu hinterfragen.

Gerade im Harmoniestreben des ewig ausgleichenden Mittleren, Benjamin, Protagonist und Identifikationsfigur des Romans, wird indirekt der überbordende Druck auf ein Kind deutlich, der sich in so einer Konstellation aufbaut. Erst mit dem Älterwerden können und müssen die Brüder Grenzen ziehen und sich distanzieren, um jeder auf seine Art dem Familiengefängnis zu entkommen. Feinsinnig skizziert Schulman auch das Verhältnis der Brüder untereinander zwischen zusammengeschweißter Schicksalsgemeinschaft und Konkurrenz im emotionalen Überlebenskampf.

Insofern funktioniert Die Überlebenden für mich sehr gut als stilles, kluges Buch darüber, was Eltern ihren Kindern antun können – ohne es zu wollen und ohne dass man einen einzelnen Punkt klar benennen könnte, den man ihnen vorwerfen sollte. Das Portrait einer Familie, die – nach Tolstoi – auf ihre eigene Weise unglücklich ist und doch bestimmt vielen anderen gleicht, hätte Schulman ruhig ohne weitere Pointe in aller Offenheit stehen und wirken lassen können.

  • Axel Schulman, Die Überlebenden, dtv, 304 Seiten, 13 Euro.

2 Kommentare zu “Alex Schulman, Die Überlebenden

  1. Sehr verstörend scheint dieses Buch zu sein . Deine Rezi vermittelt diesen Eindruck sozialer Teilnahmslosigkeit und Einsamkeit gut . Ich lese im Moment ähnliches und zwar * Risse * von Angelika Klüssendorff und schlittere dabei von einem Entsetzen in die nächste schreckliche Situation für ein Kind ,,,

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