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Tolstois Anna Karenina ist einer jener Klassiker, die man als Literaturinteressierter zumindest einmal im Leben gelesen haben sollte. Das nimmt man sich gern für „eines Tages“ vor. Doch wann ist der richtige Zeitpunkt, solch ein – je nach Ausgabe – um die 1000 Seiten starkes, nicht immer leicht konsumierbares Mammutwerk in den Alltag zu integrieren? Wie schnell ist das Leseleben vorbei, ohne dass man Anna Karenina je in Angriff genommen hätte. Was ein Verlust wäre, den ich nun, im Alter von knapp 50 Jahren, abgewendet habe, bevor mir tatsächlich noch die Zeit davonläuft.

Ein schönes Gefühl beim Klassiker-Lesen ist, eine Geschichte, die irgendwie im kollektiven kulturellen Bewusstsein verankert ist, von der man selbst aber bisher eine eher vage Ahnung hat, einmal genau kennenzulernen. Das verbindet einen dann mit so vielen Menschen, die denselben Roman in den vergangenen 145 Jahren überall auf der Welt gelesen haben, man wird Teil einer großen globalen Gemeinschaft.

Vernunftehe versus Leidenschaft

Die Titelfigur Anna Karenina ist eine wunderschöne junge Frau, die eine Vernunftehe mit einem älteren, staubtrockenen, aber wohlsituierten hohen Beamten, Karenin, eingegangen ist. Doch als sie den jungen Grafen Wronski kennenlernt, einen eitlen Fatzke und hedonistischen Lebemann, tritt die Leidenschaft in ihr Dasein. Beide entbrennen in Liebe zueinander, beginnen eine Affäre. Die zunächst heimlich geführte Beziehung lässt sich immer weniger vor den Augen der Öffentlichkeit und des betrogenen Gatten verheimlichen – spätestens, als Anna Karenina von ihrem Liebhaber ein Kind erwartet.

Bei der Geburt stirbt sie beinahe. Karenins Angebot, ihr zu vergeben, die Ehe weiterzuführen und das neu geborene Mädchen wie ein eigenes Kind anzunehmen, schlägt sie aus. Ihre Ehe empfindet Anna Karenina als Gefängnis, und sie brennt schließlich mit Wronski durch. Dafür muss sie ihren älteren, ehelichen Sohn Serjoscha bei Karenin zurücklassen.

Die Trennung von ihrem Kind sowie die gesellschaftliche Ächtung als Ehebrecherin zermürben Anna Karenina mit der Zeit. Wronski sucht und nimmt sich zunehmend seine Freiräume, während Anna sozial isoliert zu Hause versauert. Auch wenn Wronski Anna weiter aufrichtig liebt und sie nach der angestrebten Scheidung von Karenin heiraten möchte, entwickelt sie eine immer stärkere, paranoide Eifersucht – was ihn wiederum nervt, und dadurch fühlt sich Anna zurückgewiesen. Ihr Gefühlschaos treibt sie schließlich in den Selbstmord. Sie wirft sich unter einen Zug.

Feinste Gefühlsregungen ausbuchstabiert

Trotz der alles in allem vorab bekannten Entwicklung habe ich diese Liebesgeschichte mit konstantem Interesse gelesen. Es ist wahrlich meisterhaft, wie Tolstoi in die Tiefe und die Verästelungen des Seelenlebens seiner Figuren geht, feinste Gefühlsregungen ausbuchstabiert und oft auch gerade das Uneindeutige, Widersprüchliche in ihnen sichtbar und nachvollziehbar macht. Das gilt besonders für das extreme Wechselbad der Gefühle, das Anna Karenina durchläuft. Wie ihre Stimmung auf oft irrationale Weise kippt, wie sie ihren Dämonen nicht entkommt, lässt uns Tolstoi im Detail und sehr glaubhaft miterleben. Das gilt auch für die kleinen und großen inneren Stürme vieler weiterer Figuren. Was für ein Kenner des Menschen, welche Analysefähigkeit, welche Lebensklugheit!

Das Problem – für mich als Leser – war dabei bloß, dass die halbwegs spannende Ehebruchsgeschichte gefühlt maximal nur 40 Prozent des Romanvolumens einnimmt. Über weite Strecken richtet Tolstoi sein Augenmerk nämlich auf eine ganz andere Figur, deren Geschichte mein Interesse leider insgesamt weniger fesseln konnte.

Der heimliche Protagonist

Kostja Lewin ist so etwas wie der heimliche Protagonist des Romans. In der Literaturkritik wird er häufig als eine Art Alter Ego des Autors bezeichnet – was einem Tolstoi jedoch nicht unbedingt näher bringt. Lewin ist ein leicht verschrobener, sozial unbeholfener, grüblerischer Gutsbesitzer und steht im Mittelpunkt der zweiten großen Liebes- und Ehegeschichte in Anna Karenina. Er, selbst etwa Mitte 30, liebt die 18-jährige Kitty. Die wiederum ist die jüngere Schwester von Anna Kareninas Schwägerin Dolly. Dollys Ehemann Stepan Arkadjewitsch Oblonski ist also der Bruder von Anna Karenina – und auch gleichzeitig Lewins bester Freund. Alles klar?

Doch die Geschichten sind noch weiter verschränkt: Kitty, der Lewin einen Heiratsantrag machen möchte, schwärmt selbst für den schicken Grafen Wronski. Alles spitzt sich auf einem großen Ball zu. Da lässt Wronski die junge Kitty links liegen, weil er nur noch Augen für die imposante Anna Karenina in ihrem spektakulären schwarzen Kleid hat. Und die enttäuschte Kitty lässt ihrerseits den linkischen Lewin abblitzen.

Dieses Kapitel ist eine von vielen erzählerischen Meisterleistungen Tolstois. Die emotional so vielschichtig aufgeladene Szenerie des Balls prägt sich dem Leser nachhaltig ein und ist zu Recht in die Literaturgeschichte eingegangen. Genauso übrigens wie die Begegnung zwischen Anna und Wronski an einem Bahnsteig oder die Schilderung eines Pferderennens, bei dem Tolstoi auf unglaubliche Art und Weise die äußere rasante Action inklusive eines schweren Sturzes von Wronski mit den inneren Stürmen der Zuschauerin Anna verbindet, was schließlich in die implizite Bloßlegung ihrer Liebe mündet. Derartige Highlights ballen sich in der ersten Hälfte des Romans, in der zweiten gibt’s davon weniger.

Lewin und Kitty als Gegenmodell

Aber zurück zu Lewin und Kitty. Die beiden finden einige hundert Seiten nach dem abgelehnten Antrag doch noch zueinander, heiraten, Kitty zieht auf Lewins Landgut und bekommt ein Kind. Beide haben ebenfalls einige Hindernisse zu durchlaufen, die allerdings vor allem in Lewins schwierigem Charakter, seiner Unsicherheit, der Unfähigkeit, sich zu öffnen und Kitty als gleichberechtigt anzuerkennen, sowie seiner besitzergreifenden Eifersucht begründet liegen – so habe zumindest ich es auf meine wenig wohlwollende Art gelesen.

Das Paar Lewin/Kitty ist wohl als eine Art Gegenmodell zu Wronski und Anna angelegt. Tiefe, solide Verbundenheit in schlichter ländlicher Umgebung stehen hier der aufbrausenden Leidenschaft in einem moralisch lockeren, stark auf Äußerlichkeiten fixierten Ambiente der städtischen Adelsgesellschaft St. Petersburgs und Moskaus gegenüber. Als Ideal sehe ich die Beziehung von Lewin und Kitty, die mir in den Geschlechterrollen sehr hierarchisch und traditionsverhaftet vorkommt, aber ebenfalls ganz und gar nicht. Kitty ist eigentlich hauptsächlich damit beschäftigt, Lewins egozentrische Launen und Selbstzweifel wieder einzufangen und so immer wieder eine Versöhnung herbeizuführen.

Im Gegensatz zur urbanen, oft oberflächlichen Lebenswelt mit Reisen, Bällen und Theaterbesuchen, in der sich Anna und Wronski bewegen – Tolstoi zeichnet hier ein breites Gesellschaftspanorama der russischen Adelskreise -, durchlaufen Lewin und Kitty essenzielle Stationen des Lebens. Sie sitzen am Sterbebett von Lewins abgestürztem Bruder und erleben dessen sich grausam dahinziehendes Siechen mit: eine weitere eindrucksvolle Passage. Quälend lange dauert auch die Geburt des ersten Kindes des Ehepaars – wobei Tolstoi sich hier auf die Perspektive des bangenden, draußen wartenden Vaters beschränkt. Was die Frau als eigentliche Akteurin des Vorgangs durchmacht, schien ihm da wohl weniger wichtig – oder es fehlte ihm doch schlicht an Einblicken.

Ermüdende Jagdszenen

Daneben geht es auch reichlich um Lewins Gedankenwelt. Die kreist zunächst viel um die Organisation und die Eigenarten der russischen Landwirtschaft, worüber er gar ein Buch verfasst. Die entsprechenden Passagen sind mit Sicherheit höchst relevant für das politisch-zeithistorische Gesellschaftsportrait, das Tolstoi in Anna Karenina zeichnet, gehörten für mich allerdings nicht gerade zu den mitreißendsten Abschnitten. Es liegt sicher an mir, aber ich konnte von dort aus einfach keine Verbindung zu meinem Hier und Jetzt herstellen.

Als noch zäher empfand ich die Lektüre während der sich über viele Kapitel erstreckenden Beschreibung eines Jagdausflugs in die Sumpflandschaften. Wann hier wo ein Schwarm Bekassinen aufflog, dafür konnte ich mich irgendwann beim besten Willen nicht mehr interessieren.

Und ganz am Schluss reichte meine Geduld dann wohl nicht mehr aus, um mich in Lewins inneres Ringen in Sachen christlicher Glaube zu vertiefen. Philosophisch interessierte Leser mögen mir entgegenhalten, dass diese Passagen den tiefgründigsten Teil des Romans ausmachen und in der Unterscheidung von Lewins gelebten Werten und einem rein äußerlichen Befolgen religiöser Dogmen ein Schlüssel zum Verständnis des ganzen Werks liege.

Sang- und klangloser Abschied von Anna

Ich habe mich zu jenem Zeitpunkt – jenseits von Seite 800 – eher gewundert, wie sang- und klanglos der Roman über den Tod der Anna Karenina hinweggegangen war. Kaum ist die Arme vom Zug überrollt, ist sie den zurückgebliebenen Figuren kaum noch der Erwähnung wert. Man hat fast den Eindruck, als wäre Tolstoi froh, sich nun endlich von der Figur der Anna Karenina befreit zu haben, die er vielleicht als Köder brauchte, die ihm aber letztlich doch eher im Weg stand, um sich dem Thema zu widmen, das ihm eigentlich am Herzen lag: sich selbst beziehungsweise seinem Selbstportrait in der Figur des Lewin.

Alle Verehrer Tolstois mögen mir meine kleinen Lästereien verzeihen. Ich will mir keine kritische Rezension anmaßen. Denn dass es sich bei Anna Karenina um ein Meisterwerk der Literaturgeschichte handelt, das Maßstäbe setzt und die Zeit überdauert, darin stimmen Generationen von Lesern überein, daran ist nicht zu rütteln, und ich werde den Teufel tun, es in Frage zu stellen. Trotzdem ist es, glaube ich, erlaubt, seine individuelle Lektüreerfahrung in Worte zu fassen. Und da muss ich sagen, dass ich Anna Karenina zwar aufs Höchste bewundere, aber in mir nicht die ganz große Liebe zu diesem Roman entbrannt ist.

Unter den klassischen Ehebruchsgeschichten des 19. Jahrhunderts ist mir Madame Bovary näher. Das Thema der Romanleserin, die ein bisschen von den großen Gefühlen aus der Literatur in ihre profane Lebenswirklichkeit überführen will und dabei scheitert, finde ich raffinierter, und ich mag Flauberts ironischen, teils auch liebevollen Blick auf die Gesellschaft, während ich Anna Karenina als viel ernsteren, schwereren Roman empfunden habe. Wobei: Ja, es gibt sie bei Tolstoi schon auch, die überaus gelungenen satirischen Passagen und Figurenportraits – aber doch eher eingestreut.

Buch erleichtert zugeklappt

Letztlich muss ich auch zugeben, dass ich ein wenig mit Tolstois Figuren gefremdelt habe. Die ach so tragische Anna Karenina, der selbstverliebte Wronski, der kauzige Lewin, die engelsgleiche Kitty, der fade Karenin: Keine Figur lädt wirklich zur Identifikation ein. Das muss ja auch nicht sein, wäre aber zum Mitfühlen und Am-Ball-Bleiben über so eine Langstrecke aus Lesersicht durchaus hilfreich. Wie viel stärker hat mich da Dostojewski in seinen Bann gezogen, mit den tiefen Abgründen, die er aufreißt, mit seinen faszinierend ambivalenten Figuren, mit seiner wilden Dramatik. Im Vergleich dazu wirkt Anna Karenina eher kühl-analytisch, obwohl es hier ja ebenfalls um Leidenschaften geht.

So kommt’s, dass ich Tolstois Roman am Ende doch mit einer gewissen Erleichterung zugeklappt habe. Geschafft, abgehakt. Und auch wenn Anna Karenina für mich vielleicht nicht zu einem persönlichen Herzensroman wie Schuld und Sühne oder Der Idiot geworden ist, bin ich doch sicher und froh, dass ich mit dieser Lektüre meinen Horizont stark erweitert und wieder viel über die Möglichkeiten und die Macht der Literatur gelernt habe.

4 Kommentare zu “Leo Nikolajewitsch Tolstoi, Anna Karenina

  1. Insbesondere bei den Sätzen über das Klassiker-Lesen finde ich mich wieder. 🙂 Ich lasse mir ja schon seit einiger Zeit zweimal im Jahr von einer ganz zauberhaften Person Klassiker schenken, die andernfalls vermutlich auf ewig an mit vorbeigegangen wären.

    Das führte einerseits dazu, dass ich zwar schon recht viele Versäumnisse nachgeholt, trotzdem aber auch eine daraus entstandene, recht umfangreiche „Eines Tages“-Liste angesammelt habe. Auf dieser, und da schließt sich der thematische Kreis, steht neben dem „Ulysses“, der schon eine Weile bei mir rumliegt und Proust, der noch länger bei mir rumliegt, eben auch Tolstoi. Vermutlich aber nicht in Form von „Anna Karenina“, sondern von „Krieg und Frieden“. Eines Tages halt … 😉

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