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Migration ist ein Thema, das gerade wieder einmal heiß diskutiert wird. Dass Menschen ihre Heimat verlassen, um woanders ein besseres Leben zu suchen, ist freilich ein Phänomen, das es zu allen Zeiten gegeben hat und das – über die Generationen betrachtet – in den Geschichten der meisten Familien in der einen oder anderen Form eine Rolle spielt. Insofern bietet der Roman Damals, am Meer, auch wenn er eine ganz bestimmte geografische und historische Facette des Auswanderns zum Thema hat, reichlich universelles Identifikationspotenzial.

Eine Reise nach Süditalien

Damals, am Meer ist das 2010 veröffentlichte Debüt des heutigen Erfolgsautors Marco Balzano und ein schmales, leises, sanft-melancholisches Buch mit unaufdringlichem, authentischem Italien-Flair. Es geht um eine Reise, die drei Männer aus drei Generationen einer Familie miteinander antreten. Großvater Leonardo, Vater Riccardo und Enkel Nicola fahren gemeinsam von Mailand, wo sie alle leben, ins süditalienische Barletta. Aus diesem Städtchen in Apulien ist die Familie vor rund 30 Jahren nach Norditalien übergesiedelt, um der Armut zu entkommen.

In die alte Heimat geht es nun, weil die Familie ihre dortige Wohnung verkaufen möchte, die seit Jahren nicht mehr genutzt wird und dem Verfall preisgegeben ist. Doch was heißt schon „alte Heimat“? Diese Bedeutung haben Barletta und die Wohnung allenfalls noch für Leonardo. Riccardo, der zum Zeitpunkt der Auswanderung 15 Jahre alt war, sieht in der maroden Wohnung in erster Linie einen Ballast, von dem es sich zu trennen gilt. Und Enkel Nicola verbindet mit Apulien allenfalls einige Erinnerungen an hier verbrachte Sommerferien, ist aber von seiner Lebensart her schon ganz ein Mailänder.

Prototypen aus drei Generationen

Balzano macht seine drei Hauptfiguren zu Prototypen der Entwicklung der italienischen Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten, aber auch zu Sinnbildern dafür, wie sich Identität und Identifikation durch Migration über die Generationen hinweg verändern.

Großvater Leonardo war noch Analphabet, lebte ursprünglich vom Anbau von Pfirsichen und Oliven und ergriff später die Chance, die ihm der wirtschaftliche Aufschwung in Norditalien bot, und heuerte in einer Mailänder Fabrik an. Seinem Sohn Riccardo gelang nach der Übersiedlung die Assimilation und eine bildungsmäßige wie wirtschaftliche Konsolidierung. Er hat das Abitur nachgemacht und wurde Chemotechniker.

Und Il figlio del figlio, wie der Roman im italienischen Original betitelt ist, Ich-Erzähler Nicola, hat es nun sogar zu akademischen Weihen gebracht – wobei ihn das abgeschlossene Lehramtsstudium zunächst einmal bloß in die (Jugend-)Arbeitslosigkeit geführt hat. Zudem scheint er auch stärker am Besuch von Bars interessiert zu sein als an der Sicherung seiner Karriere oder zumindest seines wirtschaftlichen Auskommens. Er repräsentiert eine einerseits postmaterialistische, andererseits perspektivlose Generation in einem wirtschaftlich strauchelnden Italien um die Jahrtausendwende.

Starker, zerbrechlicher Großvater

Das alles ist vielleicht etwas schematisch, wirkt aber doch durch die plastische Figurenzeichnung und eine Vielzahl kleiner, treffender Beobachtungen authentisch. Ganz besonders Leonardo ist ein interessanter, facettenreicher Charakter, dessen Geschichte berührt. Er ist es, für den der Verkauf der Wohnung in Barletta einen tiefen Einschnitt bedeutet, weil er damit die letzten dünnen Verbindungen in die alte Heimat kappt. Leonardo ist physisch präsent – 1,90 Meter groß -, er kann laut und aufbrausend sein, anpacken und sagen, wo’s lang geht, und wird doch im Lauf der Geschichte immer zerbrechlicher. Die Reise, so ahnt man, führt ihn sinnbildlich an das Ende seines Lebens.

Mit etlichen Details und einer Reihe wie nebenbei präsentierter und doch eindringlicher Motive macht Balzano deutlich, wie Leonardos Lebenswelt verloren gegangen ist – nicht nur durch die Auswanderung, sondern generell durch den Wandel der Zeit. Da sind die süditalienischen Straßenhändler, deren lautes Geschrei den Sohn nervt, dem Enkel als pittoreskes Lokalkolorit erscheint, und das allein dem Großvater noch als wirtschaftliche Notwendigkeit bewusst ist – weil man sonst auf dem Markt nichts verkaufen konnte.

„Errungenschaften“ wie ein Supermarkt waren Leonardo in seiner apulischen Jugend noch unbekannt. Veränderungen wie der Schritt vom Zusammenleben mit Tieren in der Wohnung hin zu modernem Komfort und selbstverständlicher Körperhygiene sind zweifelsohne ein Fortschritt. Nein, hier wird wahrlich nichts an einer vermeintlich „guten, alten Zeit“ verklärt. Und doch, so lässt der Roman sanft durchklingen, kommt die Seele bei allen raschen und tiefgreifenden Veränderungen nicht immer hinterher. Leonardo ist in der modernen Mailänder Umgebung und in der neuen Zeit immer ein Stück weit ein Fremder geblieben. Nicht dass er darüber klagen würde. Doch wahre, selbstverständliche Freundschaft wie einst in Barletta hat er in Mailand nie wieder gefunden.

Fragen von Wurzeln und Entwurzelung

Was die beiden Generationen vor ihm mit teils beträchtlicher Kraftanstrengung hinter sich gelassen haben, ist für Enkel Nicola nun als möglicher Anker auf der Suche nach seinem Platz im Leben nur mehr schwer greifbar. Den Dialekt des Großvaters kann er noch verstehen, traut sich aber nicht, ihn zu sprechen. Die Möglichkeit, wie seine Vorfahren am Meer zu leben, ist für ihn nur mehr eine vage, aber nicht sonderlich realistische Sehnsucht. Für ihn stellt sich die Frage, ob all das, was er auf dieser Reise zu den familiären Wurzeln erlebt, noch etwas mit ihm zu tun hat.

Auf solche Fragen von Wurzeln und Entwurzelung liefert Balzano keine plakativen Antworten. Er spielt sie eher anhand von alltäglichen, scheinbar banalen Beobachtungen durch. Der Roman entwickelt weder eine mitreißende Handlung, noch kommt er tief philosophisch daher. Er rührt aber auf empathische Art an Erfahrungen, wie sie viele Menschen machen. Ich konnte vieles davon auf meine eigene Familiengeschichte übertragen, auch wenn die sich in ganz anderen geografischen Gefilden und historischen Zusammenhängen abgespielt hat. Und so geht es sicher vielen Lesern. Insofern hat mich die Lektüre nicht gerade aufgewühlt, aber nachdenklich und mit einem versöhnlichen Gefühl der Melancholie zurückgelassen.

  • Marco Balzano, Damals, am Meer, Diogenes, 240 Seiten, 12 Euro.

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