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Die einzige Erzählung der Nobelpreisträgerin Toni Morrison (1931-2019) ist zwar nur knapp 40 Seiten lang – die aber haben es in sich. Rezitativ, erstmals veröffentlicht 1983 und nun in deutscher Übersetzung als eigener Band im Rowohlt-Verlag erschienen, ist ein ungewöhnliches Stück Erzählkunst.

Jenseits von Schwarz-weiß-Denken

Im Mittelpunkt stehen die Figuren Twyla und Roberta und ihre lebenslange Verbindung. Als achtjährige Mädchen teilen sie einige Monate ein Zimmer in einen Kinderheim und werden enge Freundinnen, weil sie einander keine Fragen stellen müssen, um sich zu verstehen. Twyla ist hier untergebracht, weil ihre Mutter „die ganze Nacht tanzt“, wie es heißt, bei Roberta ist die Mutter krank. Für die Kinder ist damit alles gesagt. Die Tatsache, dass sie als einzige im Haus keine „echten Waisen“ sind, sondern sozusagen Betreute zweiter Klasse, schweißt sie zusammen.

Eine der beiden ist weiß, die andere schwarz, so viel erfährt der Leser dabei. Doch wer welche Hautfarbe hat, wird nie explizit gesagt. Ist es überhaupt legitim und notwendig, sich die Frage zu stellen?

Die Reaktionen und Denkmechanismen des Lesers bezieht Toni Morrison auf einmalige Art in dieses aufschlussreiche literarische Experiment mit ein. Die Selbstbeobachtung des Lesers ist etwas, das Morrison raffiniert zum Bestandteil der Erzählung macht – ein Bestandteil also, der sich außerhalb des Textes befindet.

Leser sucht Zuschreibungen

Denn unwillkürlich sucht man als Leser Anhaltspunkte, anhand derer sich den Protagonistinnen Hautfarben zuschreiben lassen. Ist nun Twylas Mutter dunkelhäutig, weil sie so exaltiert ist, eine grüne Hose und eine „verratzte Felljacke“ trägt und ihr „Hintern vorsteht“? Ist die Haut von Robertas Mutter hell, weil sie ein großes Kreuz auf der Brust und eine Bibel unterm Arm trägt und Twylas Mutter nicht die Hand geben will? Oder könnte es nicht auch umgekehrt sein?

Später begegnen sich Twyla und Roberta immer wieder einmal als Erwachsene und pendeln dabei zwischen der alten Vertrautheit und den sozialen Gräben, die sie zu trennen scheinen. Die eine ist Kellnerin in einer Raststätte an der Schnellstraße, die andere macht hier Halt, als sie – sichtlich bekifft – mit Freunden auf dem Weg zu einem Treffen mit Jimi Hendrix ist. Wir erfahren, dass Roberta, die als Kind Analphabetin war, später einen wohlsituierten Witwer geheiratet hat und in einem „guten“ Viertel der Stadt wohnt.

Irgendwann stehen sich Twyla und Roberta schließlich auf den entgegengesetzten Seiten des Konflikts um das School Busing Anfang der 1970er-Jahre gegenüber. Diese bildungspolitische Maßnahme hatte zum Ziel, an den Schulen eine bessere Durchmischung von Schülern verschiedener Hautfarben und sozialer Milieus zu erreichen, weshalb die Kinder mit dem Bus zu Schulen in weiter entfernten Stadtvierteln fahren sollten. In Elternprotesten beteiligen sich Twyla und Roberta auf unterschiedlichen Seiten an Demos und Gegendemos. Mit seinen Mutmaßungen, welche Mutter wohl weiß und welche schwarz sein könnte, lässt Morrison den Leser abermals im Regen stehen. Der muss sich fragen, wie rassistisch seine Zuschreibungen sind – und erkennen, dass sie zu nichts führen.

Gemeinsames statt Trennendes

So bezieht die Autorin den Leser auf äußerst kluge Art mit ein. Das Thema von Vorurteilen und Kategorisierungen demonstriert sie nicht anhand ihrer Figuren, sondern anhand der einkalkulierten Reaktionen des Lesers. Und sie führt diese Zuschreibungen ad absurdum, weil die Erzählung – und das Leben – eben so schillernd und voller Widersprüche ist, dass klar wird, wie sinnlos ein solches Schubladendenken ist.

Diese Grundannahme, die das Gemeinsame aller Menschen und die Konstruiertheit des Trennenden hervorhebt, habe ich als wohltuend empfunden, besonders in Zeiten, in denen sich viele Menschen immer stärker über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Community definieren – und dabei vielleicht übersehen, was sie mit den vermeintlich „anderen“ gemeinsam haben.

Dass es sich bei Rezitativ um ein literarisches Experiment handelt, bedeutet aber nicht, dass die Erzählung einer technischen Versuchsanordnung oder einem theoretischen Konstrukt gleichen würde. Rezitativ ist bei all dem wundervoll und lebendig erzählt, dabei so subtil und vielschichtig, dass es nicht einfach eine platte pädagogische „Wir sind alle gleich“-Botschaft transportiert, sondern offen genug ist, um auf wenigen Seiten größere Bedeutungsräume zu eröffnen.

Dass die vorliegende Ausgabe ein Nachwort von Zadie Smith enthält, das länger ist als die Erzählung selbst, ist einerseits kurios und dient vermutlich dem Ziel, den Band zu verkaufbaren knapp 100 Seiten aufzublähen, zeigt aber andererseits, wie viel intellektuellen Gehalt Toni Morrison auf ihren wenigen, dichten Seiten untergebracht hat.

  • Toni Morrison, Rezitativ, Aus dem Englischen von Tanja Handels, Rowohlt Buchverlag, 96 Seiten, 20 Euro.

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