Die Stille des Meeres des irischen Autors Donal Ryan ist ein Roman, der komplexer und tiefer ist, als es zunächst den Anschein hat. Er liest sich auf einer oberflächlichen Ebene recht angenehm weg und scheint ganz auf den formalen Clou aufzubauen, drei zunächst unverbunden wirkende Geschichten am Ende in einer großen Auflösung auf überraschende Art miteinander zu verknüpfen. Doch das Nachhallen und Nachdenken beginnt erst danach: Was hält die Erzählstränge letztlich im Inneren zusammen? Worum geht es hier? Es spricht für den Roman, dass der Autor keine eindeutige Antwort gibt und es jedem Leser selbst überlässt, für sich ein übergreifendes Thema herauszufiltern. Für mich geht es in dem Roman um die größte Frage: den Tod.
Klar und eindeutig ist an Die Stille des Meeres die Struktur. Der Roman setzt sich aus vier Teilen zusammen. Die ersten drei erzählen die Geschichten dreier Männer, die nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Diese Abschnitte wirken wie voneinander unabhängige Erzählungen. Der vierte Teil offenbart, wie sie miteinander zusammenhängen – und die Gesamtheit des Textes fügt sich zu einem Roman zusammen.
Drei Männer, drei Geschichten
Der erste Teil ist dabei der emotional packendste. Donal Ryan erzählt vom syrischen Arzt Farouk, der, als in seiner Heimatstadt grausame Islamisten die Oberhand gewinnen, seine „verwestlichte“ Familie und sich außer Landes in Sicherheit bringen will und dazu die Dienste einer Schlepperbande in Anspruch nimmt. Doch die Versprechungen einer sicheren, gut durchorganisierten Überfahrt erfüllen sich nicht. Die Familie findet sich eingezwercht im Laderaum eines mehr als fragwürdigen Kutters wieder, der ohne Crew per Autopilot auf die selbstmörderische Fahrt über die See geschickt wird. Das Schiff zerschellt im Sturm. Als Farouk in einem Flüchtlingslager zu sich kommt, muss er über Prozesse der Verdrängung und Leugnung zur niederschmetternden Einsicht gelangen, dass er seine Frau und seine Tochter nicht wiedersehen wird.
Der nächste Protagonist könnte von Farouks Lebenswirklichkeit kaum weiter entfernt sein. Laurence „Lampy“ Shanley ist 23 Jahre alt und treibt ziellos durchs Leben, seit er sein Ingenieursstudium geschmissen und seine erste Liebe Chloe ihn verlassen hat. Seine Haltlosigkeit, seine Komplexe und hervorbrechenden Aggressionen haben ihren Ursprung wohl mit darin, dass er seinen Vater nicht kennt. Aufgewachsen in einer irischen Kleinstadt bei seiner Mutter Florence und einem grobschlächtige Witze in Serie reißenden, aber liebevollen Großvater, wurde er von klein auf als „Bastard“ gehänselt. Jetzt übt er einen Hilfsjob als Aufsichtsperson und Fahrer eines Pflegeheims aus – und hat eine verhängnisvolle Buspanne.
Hauptfigur Nummer 3 kommt als Ich-Erzähler selbst zu Wort. John legt eine Lebensbeichte ab. Und zu beichten gibt es viel. Nach dem traumatischen Erlebnis des plötzlichen Herztods seines Bruders legt John schon in jungen Jahren eine besondere Bösartigkeit an den Tag. Er verbreitet Verleumdungen und Hetze nach einem Muster, wie es uns aus dem politischen Bereich von Populisten bestens bekannt ist: Lügen verwandelt er in Wahrheit und umgekehrt, er macht sich Neid und Ressentiments gegen die, denen es im Leben vermeintlich besser geht, zunutze, um Ausgrenzung und Hass zu erzeugen. Diese Fähigkeit kommt ihm später in seiner Karriere als Unternehmensberater und Lobbyist geschäftlich sehr zugute. Als er sich mit 45 Jahren verliebt, tut sich in der eiskalten Fassade ein wunder Punkt auf. Und genau der treibt ihn in seine schwerste Sünde.
Wo ist der gemeinsame Nenner?
Den Inhalt des vierten Teils wiederzugeben, hieße zu spoilern und damit einen großen Teil des Lesereizes wegzunehmen. Auf jeden Fall hängen die Schickale der drei Männer auf ungeahnte Weise zusammen. Die Verbindung mag unwahrscheinlich sein, doch Donal Ryan stellt sie auf überzeugende, dabei gar nicht effekthascherische Art her. Die Zusammenhänge zu entschlüsseln, bedarf einer aufmerksamen Lektüre.
So gelungen der Aha-Effekt am Schluss ist – darum geht es nach meiner Lesart in dem Roman nicht in erster Linie. Denn völlig lose Enden am Schluss zusammenzuknoten, würde aus drei Erzählungen noch keinen Roman machen. Es muss noch einen anderen inhaltlichen Grund geben, warum Donal Ryan drei so grundverschiedene Geschichten nebeneinanderstellt. Darüber lässt sich trefflich nachdenken auf der Suche nach einem roten Faden, und ich muss zugeben, dass ich dabei streckenweise etwas ratlos war.
Aber man kann es durchaus auch als Qualität dieses Romans sehen, dass er eben keinen plakativen gemeinsamen Nenner, keine eindeutige „Moral von der Geschicht'“ anbietet.
Lesbar wäre Die Stille des Meeres sicherlich als Verhandlung von männlichen Rollenbildern und dem Scheitern daran. Farouk gefällt sich für einen Moment in der Rolle des treusorgenden Familienvaters, der Frau und Kind vor der Gefahr in Sicherheit bringt – doch scheitert tragisch. Und hatte nicht viel mehr seine Frau die Fäden bei der Flucht in der Hand, die ihn bei einem vertraulichen Gespräch mit einem Schlepper nicht dabei haben wollte? Lampy tut sich schwer, ohne Vater seinen Platz in einem patriarchalen System einzunehmen. Und John sucht vermeintliche Stärke als Akteur in einem „männlichen“ Gesellschaftssystem von Empathielosigkeit, Materialismus und Gewalt – was ihn geradewegs in die moralische Katastrophe führt.
Konfrontation mit Abschied, Verlust und Tod
Was sich aber ebenfalls als Motiv durch das ganze Buch zieht, ist die Konfrontation aller drei Protagonisten mit Abschied, Verlust und Tod. Bei Farouk, der um Frau und Kind trauert, liegt das auf der Hand. Lampy überkommt immer wieder eine Art Todessehnsucht. Wenn er im Auto sitzt und über kurvige, glatte Landstraßen rast, stellt er sich vor, wie seine Mutter um ihn als Unfallopfer trauern würde. Und während er die Bewohner eines Pflegeheims mit dem Bus zur Physiotherapie fährt, geht ihm der Gedanke durch den Kopf:
Wie es sich wohl anfühlt, fragte er sich, auf der Schwelle des Todes zu stehen und trotzdem noch jeden stinknormalen Tag von vorne bis hinten durchleben zu müssen. Stieg dann vielleicht unwillkürlich Panik in einem auf, die Angst vor dem Augenblick des Todes?
Seite 146
John hat seinen Moment der Todesnähe, als das Flugzeug, in dem er sitzt, in extreme Turbulenzen gerät und er eine Art von (läuternder?) Vision hat. Generell markiert der Akt der Beichte sein Lebensende. Und seine Geschichte dreht sich noch in anderer Hinsicht zentral um den Tod und das Töten.
Und wie immer, wenn vom Tod erzählt wird, geht es doch eigentlich um eine Feier des Lebens – trotz allem. Und um das, was alle Menschen am Ende gleich macht, unabhängig von Status und Herkunft.
In dieser Hinsicht waren für mich die Geschichten von Lampy und John sowie ihre Verknüpfung besonders Gedanken anregend, auch wenn Farouks Geschichte zunächst einmal spannender und bewegender war. Die beiden folgenden Romanteile sind im Vergleich zur Dramatik des Flüchtlingsschicksals auf den ersten Blick schleppender und weniger griffig. Aber diese Perspektive wandelt sich mit dem Schluss.
So mag jeder Leser und jede Leserin wohl für sich ein eigenes Zentrum und Thema in diesem Roman finden. Anzubieten hat Die Stille des Meeres genug – präsentiert es aber nicht so offensichtlich. Die Lektüre ist daher anspruchsvoll.
Sprachlich alle Register gezogen
Als sehr gelungen hervorzuheben ist Donal Ryans Sprache. Für jeden Abschnitt findet er einen eigenen Ton. Mit poetischen Bildern, Innerlichkeit und einem eingefügten Märchen setzt er in Farouks Geschichte etwas süßliche orientalische Anklänge in Kontrast zum grausamen Migrantenschicksal. Die raue irische Kleinstadtwirklichkeit spiegelt sich in Lampys Welt in einer lockeren, teils ordinären Umgangssprache wider. John erzählt sein Leben in elaborierter Hochsprache, gemäß seinem sozialen Stand.
Donal Ryan zeigt hier ein breites Spektrum, ohne damit zu prahlen, setzt das Mittel der Sprache gekonnt ein, um seine Figuren und ihre gegensätzlichen Lebenswelten zu charakterisieren – und sie am Ende doch über die vermeintlichen Grenzen hinweg zusammenzubringen.
- Donal Ryan, Die Stille des Meeres, Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll, Diogenes, 288 Seiten, 14 Euro.
Ich habe es in diesem Moment ausgelesen und bin sehr angetan. Vielen Dank für die Inspiration und die Erläuterungen. MB
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Vielen Dank für die Inspiration und die Erläuterung – ich bin sehr angetan von diesem großen kleinen Buch.
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Freut mich sehr, dass Dir dieses schöne Buch auch so gefallen hat!
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