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Der Blick auf die Weite des Meeres regt zu philosophischen Gedanken an: darüber, wie klein und unbedeutend der Mensch ist, wie verloren in einer immensen Leere, und wohin einen die Reise wohl führt. In solche Überlegungen fallen lassen kann sich auch, wer Mariette Navarros Roman Über die See liest. In einer ebenso klaren wie poetischen Sprache erschafft sie in diesem kleinen, ungewöhnlichen Kunstwerk Motive und Bilder, die an Existenzielles rühren.

Die 1980 geborene Französin Mariette Navarro, die bis dahin als Dramaturgin und Lyrikerin in Erscheinung getreten war, legte mit Über die See – Originaltitel: Ultramarins – 2021 ihr Romandebut vor. Jahre zuvor war sie als Writer in Residence zu einer achttägigen Fahrt auf einem Frachtschiff von St. Nazaire zu den Antillen eingeladen worden. An dem Vorhaben, die Erfahrung dieser Atlantiküberquerung zu einem Theaterstück zu verarbeiten, scheiterte sie. Stattdessen wählte sie also die Romanform.

Der Mensch im Ozean

Herzstück von Über die See ist ein starkes Gedankenexperiment: Was wäre, wenn man mitten in der Unendlichkeit des Atlantik schwimmen gehen, sich als winziger Mensch wehrlos in die Naturgewalt des Ozeans begeben würde? Die Crew eines Containerschiffs richtet genau diese Bitte an die Kapitänin – und die sagt, überrascht von sich selbst: „Einverstanden.“

Sie hält die Maschinen an, schaltet den Radar aus, bringt den Frachter zum Stillstand, lässt die Seeleute, die ihrem Befehl unterstehen, im Rettungsboot die enorme Schiffswand hinab und ins Wasser steigen. Navarros Schilderung dieses Badeausflugs der besonderen Art in schlichten, klaren Sätzen bildet den frühen Höhepunkt des Romans.

Wie die schwimmenden Offiziere und Matrosen anfangs euphorisch und übermütig sind, wie sie nach und nach Unsicherheit überkommt, sie nicht umhin können, an die tausenden Meter Tiefe zu denken, die sich unter ihnen auftun, wie sie zwischen den Wellen ihre Kameraden nicht mehr sehen können, der Kraft des Wassers ausgeliefert sind, wie der Gedanke sie überkommt, die an Bord gebliebene Kapitänin könnte ohne sie weiterfahren, wie Panik hochkommt: Dafür findet Mariette Navarro eindrückliche Worte.

Losgelöst von Realismus

Wie in dieser Schlüsselszene lebt der gesamte Roman ganz von seiner schnörkellosen Poesie, von Atmosphäre und einer inneren Spannung, die der Text von Anfang bis Ende hält. Wie die Seeleute im Wasser schwebt auch Navarros Erzählung irgendwo ohne Bodenhaftung in der Weite – losgelöst etwa von einer möglichen realistischen Darstellung der Seefahrt, in der ein solches Vorkommnis natürlich undenkbar und undurchführbar wäre. Navarro schreibt auch abseits klassischer Erzählkonventionen wie einer logischen Handlung oder einer individuellen Figurenzeichnung. Ihre Charaktere bleiben namenlos, die Geschichte ist letztlich abstrakt und allegorisch.

So etwas könnte für den Leser schnell anstrengend oder langweilig werden. Das ist hier aber ganz und gar nicht der Fall. Allein durch die Schönheit einer kunstvollen, aber ungekünstelten Sprache hält die Autorin den Leser bei der Stange. Und sie hält gekonnt die Balance zwischen dem Ansinnen, mit reinen Bildern etwas Vages im Leser zum Klingen zu bringen, und dem Geschick, trotzdem stets nachvollziehbar zu bleiben und das Interesse mit einigen ganz konkreten erzählerischen Spannungselementen aufrecht zu erhalten.

Urängste und Unheimliches

Natürlich ist der Leser zunächst einmal neugierig, ob die Seeleute ihr Abenteuer unbeschadet überstehen. Noch interessanter ist die anschließende Frage: Wie kann es sein, dass nach dem Badeausflug 21 Männer wieder an Bord gehen, obwohl sich alle sicher sind, dass nur 20 ins Wasser gegangen waren? Es steht stellvertretend für Navarros Erzählweise, wie sie die Antwort im Verschwommenen lässt und dabei von der dinglich-konkreten Erklärung – ein blinder Passagier? – bis zur mystisch-symbolischen – ist der Überzählige an Bord der personifizierte Tod? – verschiedenes anbietet.

Wer’s gerne rational und naturwissenschaftlich mag, wird mit Navarros Roman vermutlich fremdeln. Letztlich ist das Buch aber ein schönes Beispiel dafür, was Literatur darüber hinaus können sollte: Tiefere Wahrheiten anhand von Stimmungen, offenen Fragen und Bildern zu transportieren und hinter dem vermeintlich Alltäglichen und Prosaischen – wie einem Containerschiff – das Unheimliche, Transzendente sichtbar zu machen.

Mariette Navarro gelingt es, existenzielle Fragen und Urängste des Menschen zu berühren. Die (Lebens-)Reise, die Spannung zwischen Kontrolle und Ausgeliefertsein dabei, zwischen dem Steuern als Kapitänin und dem Loslassen-Können und -Müssen – solche Gedanken schweben über dem Roman, der trotz seines hohen Anspruchs den Leser nie überfordert und sich von vorne bis hinten einfach nur genießen lässt.

  • Mariette Navarro, Über die See, Aus dem Französischen von Sophie Beese, Verlag Antje Kunstmann, 160 Seiten, 20 Euro.

2 Kommentare zu “Mariette Navarro, Über die See

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