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Mit Baumgartner legt Paul Auster einen wunderbar schillernden Roman vor, mit Zügen eines Alterswerks, aber auch sehr vital, innovativ und gleichzeitig mit Auster-typischen Stilmerkmalen. Freunde seiner Romane werden sich hier zu Hause fühlen, aber auch eine bei diesem Autor bisher unbekannte Traurigkeit entdecken. Ich habe die Lektüre als eine intellektuelle Wohltat empfunden.

Beim Lesen von Paul Austers 18. Roman kommt man nicht umhin, den lebenswirklichen biografischen Zusammenhang im Hinterkopf zu haben, in dem das Buch entstand. Da ist zum einen Austers fortgeschrittenes Lebensalter – am 3. Februar 2024 wird er 77 Jahre alt. Hinzu kommt, dass seine Ehefrau Siri Hustvedt vor einem guten Jahr eine Krebserkrankung Austers öffentlich gemacht hat. Von daher ist es nachvollziehbar, dass die Themen Alter, Abschied und Lebensende thematisch den Roman Baumgartner prägen.

Im Milieu von Intellektuellen und Künstlern

Angesiedelt ist die Handlung in einem Milieu von Intellektuellen und Künstlern an der amerikanischen Westküste. Titelgebende Hauptfigur ist der emeritierte Professor Seymour „Sy“ Baumgartner. Mit den ersten Sätzen lässt Auster sanft-ironisch, aber auch anheimelnd die Lebenswelt eines Geistesmenschen lebendig werden – und hat mich am Haken:

Baumgartner sitzt an seinem Schreibtisch im ersten Stock, in einem Zimmer, das er je nach Laune als Arbeitszimmer, Cogitorium oder seinen Bau bezeichnet. Stift in der Hand, befindet er sich mitten in einem Satz im dritten Kapitel seiner Monografie über Kierkegaards Pseudonyme, als ihm einfällt, dass das Buch, aus dem er zitieren muss, um den Satz zu beenden, noch unten im Wohnzimmer ist, wo er es gestern vor dem Zubettgehen hat liegen lassen.

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Diesen Mann durch einen Lebensabschnitt im fortgeschrittenen Alter zu begleiten, macht Auster zu einer anregenden, anrührenden, nachdenklich stimmenden Reise. Baumgartners späte Tage sind geprägt von der anhaltenden Trauer um seine Frau Anna, die zehn Jahre zuvor bei einem Badeunfall ums Leben gekommen ist. Inmitten eines zunehmenden Rückzugs und einer drohenden Erstarrung seines Alltags weckt die Kontaktaufnahme durch eine junge Literaturwissenschaftlerin noch einmal seine Lebensgeister. Sie möchte über Annas Werk als Dichterin promovieren. In der Herausgabe bisher unveröffentlichter Gedichte seiner verstorbenen Frau und in der väterlichen (Brief-)Freundschaft zu der jungen Forscherin findet Baumgartner neue Motivation – doch wohl nur auf Zeit.

Zwischen Philosophie und Slapstick

Diese Handlung bildet aber nur den Rahmen für eine variantenreiche literarische Nummernrevue à la Auster, aus der er einen summarischen Rückblick auf Baumgartners Leben zusammensetzt. Auster integriert in bester Collage-Technik diverse „Text im Text“-Elemente, die mit der Verwandlung von Leben in Literatur und umgekehrt spielen. Der Roman enthält Gedichte von Anna ebenso wie eine Zusammenfassung von Sys neuester schräg-faszinierender philosophischer Abhandlung, in der er, grob gesprochen, das Leben mit einer Autofahrt gleichsetzt – nicht ohne Bezugnahme auf Aristoteles‘ Bild vom menschlichen Körper als Schiff, das von der Seele als Kapitän gelenkt wird. Andere Passagen gehen zurück in Sys Familiengeschichte bis hin zu deren Wurzeln in der Westukraine und zu einem emotional starken Fragment Holocaust-Geschichte.

In postmoderner Manier wechselt Auster dabei literarische Stilebenen und Settings. Er stellt nebeneinander, was nicht zusammenzupassen scheint, und lässt daraus ein großes Ganzes entstehen, auch wenn manche Erzählfäden lose in der Luft hängen zu bleiben scheinen.

Starke Bilder für Verlust und Trauer

Starke Schwankungen gibt es auch in der Stimmung der Erzählung. Auf einen slapstickhaften Auftakt folgen Passagen von fast bleierner Tristesse. Lange im Gedächtnis bleibt ein surreales Traumbild für Sys Trauer. Als er durch Annas seit ihrem Tod unberührt gebliebenes Arbeitszimmer stöbert, beginnt deren längst abgestecktes Telefon zu klingeln. Seinen Verlust reflektiert Baumgartner als „Phantomschmerz-Syndrom“, das einem verschwundenen Menschen gilt. Neben solchen poetischen und philosophischen Annäherungen bringt der Text die Unfreuden des Alters dann wieder recht profan, mit handfestem Humor und einem Übergang in die Tragikomik auf den Punkt:

Vor Jahren, in seinen Vierzigern und frühen Fünfzigern, begann ihm aufzufallen, dass viele seiner älteren Freunde und Kollegen gelegentlich mit offener Hose von der Toilette kamen, die Weißhaarigen in den Mittsiebzigern und frühen Achtzigern, die an ihren Tisch im Restaurant zurückkehrten, ohne sich des offenen Scheunentors unterhalb ihres Gürtels bewusst zu sein. Anfangs hatten ihn diese harmlosen Pannen amüsiert. Dann amüsiert und zugleich traurig gestimmt. Dann traurig gestimmt und gar nicht mehr amüsiert, denn unterdessen hatte er genug davon mitbekommen, um zu begreifen, dass die offen stehende Hose der Anfang vom Ende ist, der erste Schritt auf dem langen Weg bergab ans Ende der Welt.

Seite 111 f.

Aus den so unterschiedlichen Puzzleteilen ergibt sich das Gesamtbild eines melancholischen Textes über einen späten Lebensabschnitt, in dem die Vergangenheit einem zwischen den Fingern zerrinnt und die Zukunft nur mehr ein Ziel kennt – und vielleicht doch noch etwas Neues bereit hält. Der ebenso wie der Einstieg wunderbare Schluss des Romans birgt zumindest eine Doppeldeutigkeit zwischen endgültigem Urteil und einem Rest Neugier. Denn mit dem letzten Satz, so heißt es, „beginnt das letzte Kapitel der Saga von S. T. Baumgartner“ (Seite 204). Und hoffentlich beginnt damit auch eine weitere Phase im Werk von Paul Auster, die uns noch etliche solcher kluger wie unterhaltsamer Romane beschert.

  • Paul Auster, Baumgartner, Aus dem Englischen von Werner Schmitz, Rowohlt, 208 Seiten, 22 Euro.

2 Kommentare zu “Paul Auster, Baumgartner

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