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Der norwegische Autor Per Petterson (geb. 1952) feierte mit seinem im Original erstmals 2003 veröffentlichten Roman Pferde stehlen seinen bislang größten Erfolg. In seinem Heimatland wurde der Roman ein Bestseller und gewann den Preis der norwegischen Buchhändler. 2007 wurde die englische Übersetzung mit dem International Ampac Dublin Literary Award ausgezeichnet, der mit 100.000 Euro dotiert ist. 2019 kam eine Verfilmung mit dem schwedischen Schauspieler Stellan Skarsgard in die Kinos. Die internationale Aufmerksamkeit ist nicht unverdient, überrascht aber insoweit, als es sich um einen ausgesprochen ruhig erzählten, eigentlich unspektakulären Roman handelt, der, wie ich finde, gar nicht so leicht auf den Punkt zu bringen ist.

Geschichte übers Erwachsenwerden

Vor allem ist Pferde stehlen eine Geschichte übers Erwachsenwerden und versucht, jenen Kipppunkt im Leben zu beschreiben, an dem ein Mensch die kindliche Unbeschwertheit verliert und erkennen muss, dass auch Verlust, Enttäuschung und Verantwortung das Leben prägen. Bei der Hauptfigur des Romans, Trond, passiert das in einem Sommer im Jahr 1948, den er als 15-Jähriger gemeinsam mit seinem Vater in einer ländlichen Region Südnorwegens nahe der schwedischen Grenze verbringt.

Erzählt wird die Geschichte auf drei Zeitebenen. Die Rahmenhandlung spielt um die Jahrtausendwende. Trond ist 67 Jahre alt, seit drei Jahren verwitwet, und zieht sich für seinen Lebensabend in eine einsam gelegene Hütte in der Natur zurück. Dort ist sein nächster Nachbar ein ebenfalls alleinstehender älterer Mann mit Hund. Trond erkennt in dem vermeintlichen Fremden einen Bekannten aus seiner Jugend wieder, Lars. Seine Gedanken schweifen zurück zum Sommer 1948, der das Leben beider für immer verändern sollte.

Jenen Sommer verbringen Trond und sein Vater gemeinsam in einer Hütte auf dem Land (in einer Umgebung also, die Tronds späterem Altersruhesitz nicht unähnlich ist), während Mutter und Schwester zu Hause in Oslo zurückgeblieben sind. Der 15-Jährige sieht diese Ferien als Männer-Auszeit und sucht Momente inniger Vater-Sohn-Verbundenheit, ist aber auch viel mit dem Nachbarsjungen Jon unterwegs. Die Buben gehen gemeinsam „Pferde stehlen“, worunter sie waghalsige Aktionen wie etwa das wilde Reiten auf Pferden des örtlichen Bauern verstehen.

Über dem Naturidyll liegt ein Schatten

Über aller naturnaher Unbeschwertheit liegen aber von Beginn an Schatten. Da ist zunächst einmal ein tragisches Ereignis: Jon lässt sein Jagdgewehr unbeaufsichtigt stehen. Sein jüngerer Bruder Lars (der, den Trond später als Rentner wiedertrifft) erschießt damit versehentlich den eigenen Zwillingsbruder.

Für Trond enthüllen sich in der Folge Wahrheiten, die ihm zuvor verborgen waren: Der Vater war während des Zweiten Weltkriegs im Widerstand gegen die deutschen Besatzer aktiv. Die Hütte auf dem Land diente ihm nicht etwa als Sommerquartier für naturnahe Ferien, wie Trond dachte, sondern als Basis für das Schmuggeln von Informationen, später auch von Geflüchteten nach Schweden. Rückblenden führen zu dramatischen Ereignissen des Jahres 1944 – das ist die dritte Zeitebene des Romans.

Trond erkennt außerdem allmählich, dass sein Vater eine Liebesbeziehung mit Jons Mutter hat, die ebenfalls zu der Widerstandsgruppe gehörte. Am Ende des Sommers wird der Vater nicht mit Trond nach Oslo zurückkehren, sondern mit seiner Geliebten durchbrennen.

Starke Schilderungen der Menschen in der Natur

Dass ich nun viele Worte auf die Nacherzählung der Handlung verwendet habe, deutet für mich auf ein Grundproblem des Romans hin. Die Geschichte ist recht verschachtelt und komplex und streift viele Aspekte. Beginnt man, den Roman zu lesen, weiß man nicht, in welche Richtung es gehen wird. Ich war doch einigermaßen verwundert, wie rasch der Roman und auch seine Figuren etwa über die Tragödie des erschossenen Kindes hinweggehen. Auch das Widerstandsthema hätte in meinen Augen mehr Raum und Tiefe verdient. Und das potenzielle Eifersuchtsdrama, das eine Beziehung zweier jeweils anderweitig  verheirateter Menschen birgt und das letztlich zum Zerbrechen zweier Familien führt, ebenso.

Die äußere Handlung, an der der Roman an sich sehr reich ist, tupft Petterson dabei eher als Hintergrund hin. Was alles passiert, erfährt der Leser meist in kurzen Sequenzen, oft zusammengefasst in Figurenrede. So richtig viel sprechen die nordischen Charaktere Pettersons ja eigentlich nicht, aber hie und da bricht dann doch ein unvermuteter Redeschwall aus ihnen heraus – was eher als textstrategische Notwendigkeit erscheint, Inhalte zu transportieren. Das finde ich nicht sehr elegant gelöst.

Den Schwerpunkt setzt Petterson als Erzähler derweil woanders. Die Stärke des Romans entfaltet sich in ausgedehnten Schilderungen eines naturverbundenen, unverstellten Lebens auf dem Land, das Trond in jenem schicksalhaften Sommer erlebt. Sehr lebendig und detailgenau sind Pettersons Beschreibungen der Heuernte, des Bäumefällens und des Aufschichtens der Stämme, die man dann mittels ausgeklügelter Technik in den Fluss rollen lässt, damit das Wasser das Holz bis ins Sägewerk trägt. Trond und sein Vater duschen im Regen, arbeiten gemeinsam und machen einen mehrtägigen Reitausflug.

Hoffnungen und Illusionen zerbrechen

Solche Idealisierungen einer von aller Zivilisation unverdorbenen Landlust könnte leicht problematisch werden, würde Per Petterson das Szenario nicht geschickt brechen und mit einer gewissen Düsternis überziehen. Das passiert unter anderem durch die Doppelcodierung des Begriffs „Pferde stehlen“. Er bezeichnet nicht nur die wilden, freien, unschuldigen Tollereien der Freunde Trond und Jon, sondern es kommt heraus, dass die Widerstandsgruppe um den Vater so auch ihre klandestinen Aktivitäten verklausulierte.

Ganz besonders gelungen sind aber eine Reihe von starken Bildern, mit denen Petterson subtil und schwer greifbar, aber sehr eindringlich das ländliche Idyll mit einem mulmigen Gefühl durchzieht. Am nachhaltigsten bleibt hier wohl in Erinnerung, wie Trond und Jon auf einen Baum klettern, um Vogelnester zu besichtigen. Jon nimmt Eier aus dem Nest und zerquetscht sie in einer Geste vermeintlich sinnlosen Sadismus.

Wie dünne Eierschalen zerbrechen in diesem Sommer auch viele von Tronds Illusionen und Hoffnungen. Im Rückblick wirkt die Nostalgie, die mit diesem norwegischen Sommer verbunden sein könnte, falsch und hohl. Die Anzeichen dafür hat Per Petterson gekonnt in seinen Text eingestreut, und das lässt – ist man erst einmal am Ende des Romans angelangt und sieht das ganze Bild – diesen etwas unübersichtlich aufgebauten Text am Ende doch nachhallen.

  • Per Petterson, Pferde stehlen, Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger, Fischer Taschenbuch, 256 Seiten, 12 Euro.

5 Kommentare zu “Per Petterson, Pferde stehlen

  1. Eines meiner Lebensbücher, einer meiner absoluten Lieblingsautoren. Zwar sollte man ja immer der Literatur den Vorrang geben, aber dazu kann ich auch die Verfilmung sehr ans Herz legen. Danke für diese wundervolle Besprechung, die das Interesse weckt für die norwegische Literatur, obwohl Petterson mittlerweile hierzulande recht bekannt ist. Viele Grüße

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    • Vielen Dank, Dein Kommentar freut mich sehr! Tatsächlich bin ich gerade mit meinem Lesekreis auf Entdeckungsreise durch die unglaublich reiche norwegische Literatur. Einige Inspirationen dafür habe ich mir natürlich auch bei Dir geholt.
      Die Verfilmung von „Pferde stehlen“ habe ich mir gerade gestern angeschaut. Ich fand sie sehr gelungen und nah am Buch. Viele Grüße!

      Gefällt 2 Personen

  2. Pingback: Mein Lesejahr 2024: Ein Rückblick | BuchUhu

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