Eigentlich sei er ja kein großer Freund von Fortsetzungen, sagte Colm Tóibin im Juni 2024 bei der Vorstellung seines neuen Romans Long Island im Münchner Literaturhaus. Man müsse sich nur vorstellen, Thomas Mann hätte Hans Castorp für einen zweiten Teil des Zauberbergs in einen weiteren Sanatoriumsaufenthalt geschickt, scherzte Tóibín. Solche Überlegungen hielten den irischen Autor nun aber nicht davon ab, nach 15 Jahren die Geschichte von Eilis Lacey, der Protagonistin seines Erfolgs Brooklyn, in einem weiteren Roman fortzuschreiben. Ich persönlich bin froh, dass er es getan hat. Denn Long Island ist ein großes Lesevergnügen – auch wenn es dem Vergleich mit dem Vorgänger vermutlich nicht ganz standhält.
20 Jahre nach „Brooklyn“
Tóibín-Fans wie ich haben die Vorgeschichte aus Brooklyn noch im Kopf, Neueinsteiger bekommen sie in der Fortsetzung aber auch noch einmal knapp zusammengefasst: In den 1950er-Jahren war die blutjunge Eilis nach New York ausgewandert. Dort verliebte sich in den Italoamerikaner Tony. Als Eilis‘ Schwester Rose starb, reiste Eilis nach Hause zur Beerdigung und lernte während ihres Aufenthalts den grundsoliden Jim kennen. Plötzlich tat sich die Perspektive eines Lebens in der irischen Heimat auf, und Tony in Brooklyn schien ganz weit weg – bis Eilis sich darauf besann, dass sie Tony ja kurz vor ihrer Abreise nach Irland noch geheiratet hatte. Eilis reiste ohne weitere Erklärungen wieder ab gen Amerika und ließ Jim zurück.
Die Handlung von Long Island setzt etwa 20 Jahre später ein. Eilis und Tony leben mit ihren zwei Kindern im trauten Eigenheim in Long Island, in unmittelbarer Nachbarschaft haben auch Tonys Brüder gebaut. Eilis ist somit umringt von der italienischen Großfamilie samt Schwiegermutter. Der Roman beginnt nun mit einer prägnanten Szene. Ein fremder Mann klingelt an Eilis‘ Tür und konfrontiert sie damit, dass Klempner Tony die Ehefrau dieses Besuchers geschwängert habe. Der betrogene Ehemann kündigt an, das Baby, sobald es geboren ist, vor Eilis‘ Tür abzulegen. Eilis zeigt freilich keinerlei Neigung, Tonys außereheliches Kind großzuziehen.
Der bevorstehende 80. Geburtstag ihrer Mutter ist ihr nun ein willkommener Vorwand, um mit einer weiteren Reise nach Irland der verfahrenen Situation zu entkommen und ihre Gedanken zu ordnen. In ihrer Heimatstadt Enniscorthy dauert es dann natürlich nicht lange, bis sie Jim wieder über den Weg läuft. Die alten Gefühle sind noch nicht erloschen.
Ein Mann zwischen zwei Frauen
Klugerweise wiederholt Tóibín aber nicht das Thema der Zerrissenheit Eilis‘ zwischen den zwei Männern, sondern er macht eine neue Dreieckskonstellation auf. Dieses Mal ist es Jim, der zwischen zwei Frauen steht. Denn er ist mit Lucy verlobt, ehemals Eilis‘ beste Freundin, mittlerweile Witwe mit drei erwachsenen Kindern sowie Inhaberin eines Fish-and-Chips-Ladens. Jim und Lucy haben ihre Beziehung bisher vor der Öffentlichkeit geheim gehalten, und auch Eilis weiß nichts davon.
Es ist spannend zu lesen, wie sich für Jim nun der Konflikt immer weiter zuspitzt: Knüpft er mit Eilis an die leidenschaftlichen Gefühle seiner Jugend an und lässt dafür alles Vertraute hinter sich? Oder steuert er in den sicheren, heimeligen Hafen der späten Ehe mit Lucy?
Tóibín erzählt die bewegende Liebesgeschichte gekonnt unter Einsatz der ihm zur Verfügung stehenden ausgereiften erzählerischen Mittel. Gewohnt warmherzig, menschenfreundlich und einfühlsam tariert er die Gefühlswelten der drei Protagonisten aus, indem er zwischen ihnen die Perspektiven wechselt. So gelingt es ihm, dass die Leser*innen sich hervorragend in alle drei hineinversetzen können. In allen Nuancen und Feinheiten lassen sich ihre Hoffnungen, Ängste und Widersprüche nachvollziehen.
Alle stehen sie vor einem möglichen Wendepunkt, der sich in der Mitte des Lebens auftut. Jetzt entscheidet es sich: Ändert sich noch einmal alles, geht man noch einmal ein Risiko ein, oder steuert man auf eine vermeintlich vorbestimmte, mehr oder weniger Glück verheißende Zielgerade des Lebens?
Tóibín auf vertrautem Terrain
Tóibín selbst geht mit Long Island freilich keine großen Risiken ein, sondern bewegt sich auf vertrautem Terrain. Ein weiteres Mal macht er seine Geburtsstadt Enniscorthy zum Schauplatz. Er portraitiert das irische Kleinstadtleben mit seiner Enge, sozialen Kontrolle und den katholischen Konventionen abermals feinsinnig und ironisch – ein Szenario, das treuen Leser*innen nicht nur aus Brooklyn, sondern etwa auch aus Nora Webster bereits vertraut ist. Tóibín bietet seinem Publikum damit ein Gefühl des Heimkommens an, darin gipfelnd, dass zum Beispiel die einstige Romanprotagonistin Nora Webster als Nebenfigur auftritt. Und Lucy ist sogar schon aus einer noch länger zurückliegenden Erzählung aus dem Band Mütter und Söhne bekannt. Ein wenig Selbstreferenzialität sei einem etablierten Autor wie Tóibín natürlich erlaubt.
Es muss auch kein Fehler sein, dass Long Island etwas konventioneller, mehr auf Breitenwirksamkeit zielend wirkt als viele frühere Romane Tóibíns. Stärker als sonst treibt der Autor hier seinen Plot voran und hält sich weniger bei den leisen, oberflächlich betrachtet alltäglichen Momenten auf, in die er oft so viel unausgesprochene Bedeutung hineingepackt hat.
Für Verfilmung bestens geeignet
Long Island ist da etwas weniger subtil. Manchmal ist man als Tóibín-Leser gar überrascht, wie vergleichsweise überstürzt die Geschichte voranschreitet, bisweilen ein wenig auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Hatte er beim Schreiben eventuell schon die spätere mögliche Verfilmung im Kopf, in der auf der Oberfläche alles Wesentliche erkennbar sein muss?
Da die Konstruktion der Geschichte so gekonnt und klug ist, konnte ich es aber einfach genießen, begierig weiterzulesen. Sein Gefühl für starke Szenen, Motive und Charaktere setzt Tóibín auch in diesem Roman bestens ein. Es bleibt die Freude an einer sehr gut erzählten Geschichte, am klaren, schönen Stil des Autors, an seinem feinen Humor. Beim nächsten Roman darf er sich und uns Leser*innen aber auch gerne wieder etwas mehr zumuten.
- Colm Tóibín, Long Island, Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini, Carl Hanser Verlag, 320 Seiten, 26 Euro.
“Nora Webster“ mochte ich sehr. „Brooklyn“ habe ich bisher noch nicht gelesen, aber ich denke, das sollte ich wohl bald mal nachholen und definitiv noch vor einer „Long Island“-Lektüre lesen. Danke für den schönen Beitrag und herzliche Sommersonntagsgrüße!
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„Nora Webster“ ist wirklich ein tolles Buch! Wie wäre es mit einer Doppellektüre von „Brooklyn“ und „Long Island“? 🙂 Auch viele andere Bücher von Tóibín kann ich sehr empfehlen, wie „Portrait des Meisters in mittleren Jahren“, „Das Feuerschiff von Blackwater“ und mehr. Herzliche Grüße!
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Ich sehe schon, da gibt es noch viel zu tun. 🙂 Danke für die Tipps, ich werde das auf jeden Fall im Auge behalten. Mal sehen, wann ich dazu kommen werde… es gibt einfach so viel Verlockendes zu lesen… ein Luxusproblem!
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