Ist es eine tatsächliche Häufung? Oder nur meine subjektive Wahrnehmung? Vermutlich hat es einfach mit meinem fortschreitenden Alter zu tun, dass in jüngerer Zeit eine ganze Reihe von Autoren aus meinem persönlichen zeitgenössischen „literarischen Universum“ verstorben sind. So habe ich innerhalb relativ kurzer Zeit Lieblingsschriftsteller wie Almudena Grandes (gestorben am 27. November 2021) und Javier Marías (11. September 2022) verloren. Und in diesem Jahr folgten die Nachrichten vom Ableben von Paul Auster (30. April 2024), Alice Munro (13. Mai 2024) und John Burnside (29. Mai 2024) dicht aufeinander.
Der Tod eines Schriftstellers ist für mich oft ein Impuls, ein Buch von ihm zu lesen. Es ist ein bisschen, als könnte ich ihn oder sie dadurch noch eine kleine Weile unter den Lebenden halten. Seine Worte werden dann weiter gehört, etwas von ihm bleibt, das ich festhalten will, bevor es ins Vergessen zu driften droht. Wie lange werden wohl die Bücher dieser Autoren noch aufgelegt, wenn sie nicht mehr durch Neuveröffentlichungen, Lesungen, Preise auf sich aufmerksam machen?
Diese Art von Leseanreiz hat auch meine Sommerlektüre geprägt – mit dem Nebeneffekt, dass es nicht gerade luftig-unbeschwerte Texte waren, die eigentlich geeignet wären, einen durch die sommerliche Leichtigkeit zu begleiten. Doch ich bereue es keineswegs, zu Büchern von John Burnside und Alice Munro gegriffen zu haben. Beide sind einer Lese-Hommage mehr als würdig.
Glister von John Burnside beginnt als Mystery-Thriller
Im Fall des Schotten John Burnside war es mir ein besonderes Bedürfnis, Versäumtes nachzuholen. Ich hatte ihn schon viele Jahre auf dem Radar, wollte immer etwas von ihm lesen, habe Bücher von ihm verschenkt, ihn auf die Vorschlagsliste meines Literaturkreises gesetzt, eine Lesung von ihm besucht und an deren Rande sogar kurz mit ihm gesprochen. Trotzdem kannte ich bis zu seinem überraschenden Tod im Alter von nur 69 Jahren noch kein Buch von ihm. Diese Lücke wollte ich jetzt dringend schließen.
Was mir in einer geschätzten antiquarischen Buchhandlung als Erstes in die Hände fiel, war dann der Roman Glister aus dem Jahr 2008. An der Inhaltsangabe gereizt hatte mich die scheinbare Anmutung eines Mystery-Thrillers. Es geht darum, dass aus einer heruntergekommenen Küstenstadt regelmäßig männliche Jugendliche verschwinden. Doch die Gesellschaft, ja selbst die Familien der Vermissten nehmen dies mit seltsamer Gleichgültigkeit zur Kenntnis. Sie werden eben ausgerissen sein, um irgendwo anders ein besseres Leben zu suchen, so der Tenor. Die Polizei in Person des einzigen Provinzgendarmen Morrison ermittelt nicht weiter.
Es ist aber keineswegs ein Krimi, der sich aus dieser Grundkonstellation entwickelt. Burnside entwirft vielmehr ein dystopisches, sehr finsteres und bedrückendes, mit Sozialkritik an Ausbeutung und Umweltzerstörung versehenes Portrait einer äußerlich wie innerlich maroden Welt. Die toxischen Ruinen einer stillgelegten Chemiefabrik prägen die Stadt Innertown. Hinterlassen hat die einstige Industrieanlage vergiftete Wälder, kranke Menschen und eine allgemeine Perspektivlosigkeit und Lethargie. Pläne haben hier nur gierige, gewissenlose Manager und Politiker, die eigennützig und intrigant im Hintergrund ihre Fäden spinnen, um einen vergessenen Landstrich weiter auszusaugen. Die Kinder und Jugendlichen der Stadt sind verroht und suchen den Kick in gefühllosem Sex und auf der blutigen Jagd nach mutierten Tieren.
Eine düster funkelnde Sprache
Nein, gute Laune verbreitet diese Geschichte wahrlich nicht. Wer eine aufbauende Lektüre sucht, dem rate ich von Glister ab. Ein großer Genuss ist es aber, sich Burnsides wunderbarer Sprache hinzugeben. In langen, komplexen, aber klaren und geschmeidig lesbaren Sätzen schafft er es, diese Welt düster funkeln zu lassen. Durch all die Dunkelheit leuchtet dadurch eine Schönheit. Sprache, Poesie und Literatur sind für Burnside offenbar Ankerpunkte, die in einer verdorbenen Welt immer noch Halt geben können.
Das gilt auch für seinen Protagonisten Leonard. Sein Blick auf die Welt wirkt selbst im jungen Alter von 15 Jahren schon abgestumpft, teils zynisch und kalt:
„Leute sind schwer zu lieben, selbst wenn man Sex hat oder gute, lustige Gespräche führt wie die, die Elspeth und ich manchmal haben. Leute sind schwierig, aber so ist das eben.“ (Seite 71)
Literatur als Rettungsanker
Eine Art Heimat aber findet er in der örtlichen Bibliothek und den Büchern, die er dort findet, von Joseph Conrad, Virginia Woolf, Dostojewski oder Herman Melville. Eine der seltenen Stellen, an der in Glister ein feiner, ironischer Humor durchblitzt, ist Leonards Analyse der Lesegewohnheiten der Stadtbevölkerung:
„Die meisten Bücher in der Bibliothek sind Schund, Liebesgeschichten, Thriller und Wildwestromane, denn die Einwohner von Innertown lieben dieses dumme Zeugs über Cowboys, Nonnen und Spione, diese alten, abgewetzten Schwarten. Die neuen Bücher sind sogar noch schlimmer, bescheuerte Ratgeber oder Romane über Reiche, die unglaublich leidenschaftliche Affären mit ihrem Tennistrainer haben und ähnlichen Schwachsinn, Bücher für Heimwerker – echt wichtig für uns Leute von Innertown, die wir doch alle so viel Bares übrig haben -, Anleitungen für traditionelle Saumstickerei und was weiß ich. Wie man eine Flickendecke aus alten Pullovern macht. Romane von ehemaligen Politikern, die Flickendecken aus alten Pullovern machen.“ (Seite 96)
Keine schlechte Analyse des Buchmarkts, oder? Leonard aber hat sich, vielleicht geschult von der Literatur, einen Blick auf die Welt bewahrt, der auch dem vermeintlich Hässlichen eine Ästhetik, eine Art von Poesie und einen verborgenen Wert abgewinnen kann. Burnside bringt das in einer wunderschönen, poetischen Beschreibung der verlassenen Industriebrache mit ihren rostigen Rohren und schwarzen Schuttfeldern unter einer Schneedecke auf den Punkt.
„Alles wirkt enger beieinander, und zugleich scheint es mehr Raum zu geben als im Herbst. Wenn der erste Schnee fällt, sieht man plötzlich ungesehene Dinge, und man begreift, wie vieles in der Welt unsichtbar oder doch nur unmittelbar vor dem Sichtbarwerden ist, könnte man ihm nur die angemessene Aufmerksamkeit schenken, so als drehte man am Radio den Knopf und stellte den richtigen Sender ein, auf dem alles deutlicher klingt.“ (Seite 75 f.)
Es sind Stellen wie diese, die einen Hauch von Hoffnung ausstrahlen. John Burnsides Schreiben ist mutmaßlich geprägt von autobiografischen Erfahrungen: dem Aufwachsen bei einem alkoholkranken, gewalttätigen Vater – nachzulesen in autofiktionalen Büchern wie Lügen über meinen Vater und Wie alle anderen – und Drogenmissbrauch, aber auch der Rettung durch die Literatur. So zumindest erkläre ich mir den tief pessimistischen, schonungslosen und brutalen Blick auf die Welt, kombiniert mit einer zarten Poesie und einem tiefen menschlichen Mitgefühl mit sozial Randständigen, die Glister prägen.
Das rätselhafte, kafkaeske Ende bietet dem Leser keine Antworten an, sondern führt allenfalls in ein ambivalentes, entrücktes Zwischenreich, in dem mir nun, nach seinem Tod, auch der Erzähler Burnside vor Augen schwebt.
„Doch nichts entschwindet, auch ich nicht. Nichts entschwindet in die Vergangenheit, es wird höchstens vergessen und so zur Zukunft.“ (Seite 8)
Himmel und Hölle: Erzählungen aus dem Alltag
Wie schaffe ich jetzt von hier aus den Übergang zu Alice Munro, der Literatur-Nobelpreisträgerin von 2013, die genau 16 Tage vor John Burnside starb, allerdings im deutlich höheren Alter von 92 Jahren? Ihre Erzählungen im Band Himmel und Hölle, den ich in Anschluss an Glister gelesen habe, haben auf den ersten Blick wenig mit Burnsides Roman zu tun. Eine Gemeinsamkeit könnte man aber darin sehen, dass es beide verstehen, das vermeintlich Profane, vielleicht auch Triste mit einer zusätzlichen, „literarischen“ Bedeutungsebene aufzuladen.
Munros Erzählungen spielen dabei nicht an einem dystopischen Ort des sozialen Niedergangs, sondern spiegeln im Vergleich dazu sehr bodenständig ein völlig alltägliches Ambiente der Mittelschicht wider, das erst mal nicht der Ort zu sein scheint, an dem sich große Dramen abspielen. Munro jedoch schafft es immer wieder, in der Normalität und im angeblichen Durchschnitt die verborgenen zwischenmenschlichen Stürme, die Tragik und das Erzählenswerte zu erkennen. Ihre Leser*innen führt sie dabei auf teils verschlungenen Wegen, immer aber auf leisen Sohlen zu einem Punkt, in dem sich die ganz besondere Geschichte eines jeden gewöhnlichen Lebens kondensiert.
In den neun Erzählungen von Himmel und Hölle geht es dabei immer wieder um den Themenkreis von Abschied und Verlust – sei es durch Krankheit und Tod oder einfach weil Lebenswege in unterschiedliche Richtungen verlaufen. Munro zeigt uns wiederholt Momente, die verpasste Chancen symbolisieren, eine Version des Lebens, wie es hätte sein können. Teils sind es nur ein einziger Kuss, ein Augenblick der verstohlenen Zärtlichkeit, eine flüchtige Umarmung, ein tiefer Blick, die andeuten, was zwischen einer Frau und einem Mann hätte sein können – unter anderen Umständen.
Was Alzheimer aus einem Ehepaar macht
Herzstücke der Sammlung sind die beiden etwas längeren Stücke am Anfang und Ende des Buchs. Hasst er mich, mag er mich, liebt er mich, Hochzeit ist dabei insofern untypisch optimistisch, als die Erzählung ihrer Protagonistin, einer scheinbar verhärmten Haushälterin, die droht, zur alten Jungfer zu werden, eine unerwartete Perspektive eröffnet. Der Plot ist raffiniert aufgebaut. Um sich über die Landpomeranze lustig zu machen, fälschen zwei Teenagermädchen eine Korrespondenz von Liebesbriefen zwischen der Haushälterin und dem hallodrihaften, nun verwitweten Schwiegersohn der Familie. Aus der parodistisch gemeinten Fiktion wird Realität. Es ist höchst kunstvoll, wie Munro das glaubhaft macht.
Der Bär kletterte über den Berg, auch bekannt geworden durch die Verfilmung unter dem Titel An ihrer Seite von 2006, ist die berührende Geschichte eines Paars, das die Alzheimer-Erkrankung der Ehefrau voneinander trennt. Als sie in einem Heim untergebracht wird, knüpft sie, frei von Erinnerungen an ihre Ehe, emotionale Bande zu einem ebenfalls Dementen. Ihr Mann stellt in einem ungewöhnlichen Schritt seine eigenen Gefühle hintan.
Zu Recht sagt man Alice Munro nach, dass sie es versteht, im Format einer 30-seitigen Geschichte das Gewicht eines ganzen Romans unterzubringen. Ich würde noch weiter gehen und behaupten, dass sie zum Beispiel die ganze Komplexität einer Beziehung innerhalb eines einzigen Absatzes auf den Punkt bringt. Ihre genaue Beobachtungsgabe und ihre feinen Antennen für alles Zwischenmenschliche ringen mir immer wieder höchste Bewunderung ab, etwa wenn sie einen Besuchstag im Pflegeheim beschreibt.
„Es waren die Frauen, die das Gespräch in Gang hielten. Männer machte die Situation unbeholfen, Teenager schien sie anzuwidern. Die Besuchten fuhren im Rollstuhl oder stapften am Krückstock oder gingen steif und ohne Hilfe der Prozession voran, stolz auf die Besucherzahl, aber unter diesem Stress mit etwas leerem Blick oder verzweifelt schwatzend. Und jetzt, umgeben von so vielen Bewohnern der Außenwelt, sahen die Bewohner dieser Innenwelt doch nicht so normal aus. Die Barthaare am Kinn alter Frauen mochten bis zu den Wurzeln wegrasiert sein, schlimme Augen mochten von Augenklappen oder dunklen Brillen verdeckt sein, und unpassende Äußerungen mochten durch Medikamente unterdrückt werden, aber es bleib eine Eisschicht, eine gespenstische Starre – als wären sie zufrieden, Erinnerungen ihrer selbst zu werden, letzte Fotos.“ (Seite 351)
Vielschichtiger und tiefer ließe sich in so wenigen Sätzen wohl kaum die komplexe emotionale Konstellation zwischen Pflegebedürftigen und deren Angehörigen zum Ausdruck bringen. Und unter die Haut ging mir auch die knappe Ergänzung um die Perspektive einer Pflegekraft, die, selbst mit allerlei Widrigkeiten des Lebens kämpfend, auf die Lage ihrer meist wohlsituierten betagten Patienten blickt:
„In ihren Augen mussten Grant und Fiona und Aubrey Glück gehabt haben. Sie waren durchs Leben gekommen, ohne dass zu viel schief gegangen war. Was sie jetzt im Alter zu leiden hatten, zählte kaum.“ (Seite 361)
Munros Erzählungen sind voller solcher subtiler Beobachtungen und damit sehr dicht. Sie erfordern daher eine konzentrierte Lektüre, auch weil sie oft lange vor sich hinzumäandern scheinen, ohne dass man recht weiß, worauf sie hinauslaufen. Da muss man aufpassen, dass man die meist unerwartete Pointe, die sich am Ende doch noch bietet, und den Kern der Geschichten nicht überliest.
Bittere Pointe aus dem wahren Leben
Eine solche unerwartete Wendung, die alles in ein anderes Licht taucht, hielt am Ende auch Alice Munros eigenes Leben parat. Zwei Monate nach ihrem Tod machte ihre Tochter Andrea Skinner öffentlich, dass sie ab dem Alter von neun Jahren von ihrem Stiefvater, Alice Munros zweitem Ehemann, sexuell missbraucht worden war. Als sie sich später der Mutter offenbarte, stand Alice Munro offenbar weiter an der Seite ihres Gatten. In der Öffentlichkeit wird ihr nun Verrat an der Tochter und ein katastrophales Versagen als Mutter und Mensch vorgeworfen. Die einstige feministische Ikone geriet stark ins Wanken.
Auch ich möchte ihr Verhalten menschlich keineswegs in Schutz nehmen. An meiner Bewunderung für Alice Munro als Autorin ändert sich aber nichts. Es wirkt auf mich mehr wie eine Ironie des Schicksals und gleichzeitig logisch, dass Munro auch im Leben in eine hochkomplexe Geschichte von Schuld, Schweigen und Widersprüchen verstrickt war, wie sie sie selbst wohl am besten hätte beschreiben können.
- John Burnside, Glister, Aus dem Englischen von Bernhard Robben, aktuell erhältlich in der Ausgabe: Penguin Verlag, 288 Seiten, 12 Euro.
- Alice Munro, Himmel und Hölle. Neun Erzählungen, Aus dem Englischen von Heidi Zerning, Fischer Taschenbuch, 382 Seiten, aktuell erhältlich antiquarisch oder als E-Book, 8,99 Euro.
Ich habe „Glister“ von Burnside noch ungelesen im Regal stehen, es wird Zeit, dass sich das ändert. Danke für diese Erinnerung an zwei herausragende AutorInnen. Ich war persönlich sehr traurig, als Paul Auster starb. Ein Schriftsteller, der mich mit seinen Büchern schon einige Jahre begleitet. Viele Grüße
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Ja, die Nachricht vom Tod Paul Austers hat mich auch sehr traurig gemacht. Viele Grüße zurück!
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