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Christliche Werte und kirchliche Dogmen liegen nicht selten weit auseinander. Eine Geschichte, die dies eindringlich verdeutlicht, entwirft die argentinische Erfolgsautorin Claudia Piñeiro in ihrem Roman Catedrales (deutsch: Kathedralen). Auf äußerst raffinierte Weise entblättert sie dabei einen Akt der Bigotterie, der in seinem Ausmaß erschüttert, und erweist sich dabei als Erzählerin der Extraklasse.

Im Mittelpunkt des Romans steht ein grauenvolles Ereignis, das 30 Jahre zurückliegt. Damals wurden auf einer Brachfläche am Ortsrand der argentinischen Kleinstadt Adrogué die sterblichen Überreste der 17-jährigen Ana gefunden. Der Leichnam war gevierteilt und teilweise verbrannt. Die Suche nach dem Täter verlief ergebnislos.

Durch Anas Familie geht seither ein Riss. Die erzkatholische Mutter und die älteste, ebenso rigide religiöse Schwester Carmen finden sich offenbar mit dem Geschehen als Gottes Wille ab. Lía, die mittlere der drei Schwestern, ist durch die grauenvolle Tat vom Glauben abgefallen, ist ins spanische Santiago de Compostela ausgewandert und hat jeden Kontakt zur Familie abgebrochen – außer zum Vater Alfredo, mit dem sie in Briefkontakt steht. Er ist es nun auch, der vor seinem nahenden Tod noch einmal einen letzten Anlauf zur Erforschung der Wahrheit nimmt.

Puzzle aus Perspektiven

Das klingt zunächst einmal nach dem Ausgangspunkt eines klassischen Thrillers, mit einem Schuss Blutrünstigkeit, wie er heute in diesem Bereich der Literatur fast zum guten Ton zu gehören scheint. Claudia Piñeiro macht aber etwas ganz anderes daraus, nämlich eine kritische Gesellschafts- und Familienanalye. Ist Catedrales überhaupt ein Krimi? Insofern ja, als die Aufklärung eines Verbrechens das Leserinteresse bindet. Von Inhalt und Struktur her hat der Roman jedoch wenig mit den Konventionen des Genres zu tun.

Denn Piñeiro begleitet nicht etwa einen Ermittler bei seinen Nachforschungen, die am Ende zur Auflösung führen, sondern enthüllt die Wahrheit hinter dem Tod des Mädchens nach und nach, indem sie in sechs Kapiteln und einem Epilog sieben verschiedene Personen zu Wort kommen und ihre jeweilige Perspektive darlegen lässt. Als Leser kommt man dabei dem Kern der Sache immer näher. Der Schluss präsentiert nicht etwa mit einem großen Knall die Antwort auf alle Fragen, sondern liefert schlicht das letzte Puzzleteil, in einer Geschichte, deren grundlegende Auflösung zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon geklärt ist. Dennoch schafft es die Autorin, die Spannung durchgehend hoch zu halten.

Ein Krimi ist Catedrales auch insofern nur bedingt, als es sich bei der enthüllten Wahrheit um kein Verbrechen klassischer Art handelt. Um nicht zu viel zu verraten, muss ich es abstrakt umschreiben. Was geschehen ist, lässt sich mit den Mitteln des Strafrechts nicht adäquat fassen, auch wenn sich moralisch tiefe Abgründe aufgetan haben. Die wiederum sind so beschaffen, dass sich diejenigen, die der Leser als Täter wahrnimmt, unter Berufung auf ihre Religion am Ende als frei von Schuld begreifen und Urteile über das eigentliche Opfer sprechen. Andere, die sich weit weniger haben zuschulden kommen lassen, aber ihren eigenständigen moralischen Kompass zum Maßstab nehmen, haben hingegen mit ihrem Gewissen zu kämpfen. Es bedarf einer großartigen Geschichtenerzählerin wie Claudia Piñeiro, um so ein Paradoxon und die verkehrte Welt dahinter begreiflich zu machen.

Pero el bien y el mal, ustedes y yo lo sabemos, son términos relativos. Y las religiones, por lo general, no te dan permiso para pensar con tu propio criterio dónde está lo uno y lo otro. (Seite 158)

Gut und böse, das seien relative Begriffe, so bringt Piñeiro in diesem Zitat eine zentrale Botschaft ihres Romans auf den Punkt. Die Religionen aber würden es dem Menschen im Allgemeinen nicht erlauben, selbst denkend nach eigenen Maßstäben zu entscheiden, wo das eine und wo das andere liegt.

Kritik an Dogmen und Selbstgerechtigkeit

Ist so eine kirchen- und religionskritische Analyse in unserer heutigen säkularisierten Gesellschaft überhaupt noch nötig? Soll man das außerhalb von Piñeiros Heimatland Argentinien, das sicherlich stärker katholisch geprägt ist, lesen?

Ja, unbedingt und mehr denn je! Denn egal, wohin man blickt, sind aktuell doch reaktionäre Kräfte auf dem Vormarsch, die jede hart erkämpfte und längst nicht vollendete Liberalität in die Tonne treten. Man schaue nur auf die restitutive und autoritäre Fassade der Diktatur des (in Wirklichkeit vor allem kleptokratischen) Wladimir Putin, das ebenso weit rückwärtsgewandte Gruselkabinett von Donald Trump, die geschichtsvergessene AfD oder einen CDU-Kanzlerkandidaten, der sich gegen die Entkriminalisierung von Abtreibungen zur Wehr setzt. Religiöse Fanatiker haben in diesen Zeiten allen Grund zu jubeln, Vernunft und Menschlichkeit sind in der Defensive und ernten in den Sozialen Medien allenfalls noch höhnische Lach-Smileys. Da sind als Gegenpol aufgeklärte Stimmen zumindest in der Literatur dringend gefragt!

Abgesehen von der wichtigen Aussage des Romans bewundere ich Piñeiros stilistische Mittel. Auch erzählerisch beweist sie, dass keine Rückkehr ins 19. Jahrhundert nötig ist, um eine Geschichte auf eingängige und packende Weise zu erzählen. Sie zeigt, wie viele moderne Techniken der Literatur zur Verfügung stehen, und setzt sie virtuos und einfallsreich ein.

Die Verteilung der Erzählung auf verschiedene Perspektiven ist da noch die geringste Raffinesse. Piñeiro freilich weiß sie gekonnt und sinnvoll einzusetzen, um Spannung aufzubauen und die Geschichte, die letztlich keine der beteiligten Personen vollständig kennt, zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Nachdem er in der Figurenrede die verschiedenen Blickwinkel und gegensätzlichen Wertmaßstäbe kennengelernt hat, liegt es am Leser, selbst denkend zu einer eigenen Bewertung zu gelangen – ganz im Gegensatz zu den zementierten „Wahrheiten“ religiöser Schriften.

Erzählerin mit Gedächtnisverlust

In den einzelnen Kapiteln sattelt Piñeiro noch eine Reihe von Erzähltechniken darauf, die sehr einfallsreich entwickelt, aber nie aus sinnloser literarischer Selbstbespiegelung eingesetzt werden. Eine faszinierende Idee der Autorin ist es etwa, mit Marcela, Anas bester Freundin, eine Figur sprechen zu lassen, die unter anterograder Amnesie leidet. Das bedeutet, dass sie sich alle neuen Eindrücke und Erlebnisse nur sehr kurzzeitig merken kann und sie dann gleich wieder vergisst. Das Eintauchen in ein solch fragmentiertes Bewusstsein ist für einen Autor eine höchst herausfordernde Aufgabe, die Piñeiro bravourös meistert. Sie entwickelt daraus sogar eine ganz eigene Poesie des Lebens im Augenblick. Gleichzeitig ist es ein erzählerischer Clou, genau diese Figur zu einer Schlüsselzeugin der aufzuklärenden Ereignisse zu machen. Ausgelöst wurde Marcelas Gedächtnisverlust übrigens dadurch, dass ihr in einer Kirche die massive Statue eines Erzengels auf den Kopf fiel – was für eine böse Metapher!

Sehr gut gelingt es der Autorin, jeder sprechenden Figur einen eigenen Sprachstil zuzuordnen und damit die Empathie oder Kaltschnäuzigkeit, Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit der Charaktere herauszuarbeiten. Einen leichten, ironischen Ton bekommt der Erzählung in dem Kapitel, das die Perspektive des Pathologen Elmer einnimmt. Ein literarisches Kabinettstück ist die Wiedergabe eines Telefonats, in dem wir nur Elmers Stimme hören – und uns doch genau erschließen können, was der Dialogpartner am anderen Ende der Leistung wohl sagt.

Ich könnte jetzt sagen, dass ich Claudia Piñeiro für all ihre Qualitäten anbete. Auf eine solche, wenn auch nur sinnbildliche, Heiligsprechung legt die Autorin von Catedrales aber sicher keinen Wert.

  • Claudia Piñeiro, Catedrales, Alfaguara, 178 Seiten, als E-Book: 9,99 Euro. Ausgabe in deutscher Sprache: Kathedralen, Aus dem Spanischen von Peter Kultzen, Unionsverlag, 320 Seiten, 15 Euro.

4 Kommentare zu “Claudia Piñeiro, Catedrales (Kathedralen)

  1. Wunderbar! Ich fand den Roman grandios und bin ebenso wie du ein Piñeiro-Fan. Ich werde ihr neuestes Buch aud Deutsch abwarten. Wenn ich es im Original lese, brauch ich einfach zu viel Zeit.

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