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Ich fühle mich wie ein Stein im Geröll. Wenn irgend jemand oder irgend etwas mich anstößt, werde ich mit den anderen fallen und herunterrollen; wenn mir aber niemand einen Stoß versetzt, werde ich einfach hierbleiben, ohne mich zu rühren, einen Tag um den anderen… (Seite 79)

Diese Worte von Conxa, Ich-Erzählerin des großartigen kleinen Romans Wie ein Stein im Geröll, sind so etwas wie die Quintessenz ihres Lebens. Es handelt sich um eine einfache Frau, die Anfang des 20. Jahrhunderts in der abgeschiedenen Bergwelt der Pyrenäen zur Welt kommt und dort fast ihr ganzes Leben verbringt – eigentlich stabil und vermeintlich fest verankert wie ein Stein in der kargen Berglandschaft und doch immer wieder unfreiwillig, passiv und schmerzlich mitgerissen von der Gewalt geschichtlicher Ereignisse und sozialer Veränderung. Die Autorin Maria Barbal verleiht dieser Conxa eine ungemein berührende Erzählstimme, die uns einer fremd erscheinenden Umgebung sehr nahe kommen lässt.

Leben in einem Bergdorf der Pyrenäen

Conxa, fünftes von sechs Kindern einer Bergbauernfamilie, ist 13 Jahre alt, als sie ins Haus ihrer kinderlosen Tante im Nachbardorf geschickt wird. Nach dem ersten Schmerz der Trennung von Mutter und Schwestern lebt sie sich bei der äußerlich etwas spröden, aber im Prinzip freundlichen Tante und deren wortkargem Mann gut ein. Hier, in einem großen Haus, findet sie sich in etwas mehr Wohlstand wieder, und doch besteht das Leben auch hier in erster Linie aus Arbeit im Haus und auf dem Feld, aus Sparsamkeit, festgefügter Tradition und unbedingter Unterordnung.

Das Glück kehrt bei Conxa ein, als sie sich in den Handwerker Jaume verliebt und ihn, entgegen anfänglicher Widerstände ihrer Ersatzeltern, heiratet. Das Paar bekommt drei Kinder, ist wegen Jaumes Tätigkeit auf Baustellen in den Nachbardörfern aber auch häufig getrennt. Aufgrund dieser Umstände erfährt Jaume auch erst drei Tage später von der Geburt der ersten Tochter Elvira.

Ein ungutes Gefühl beschleicht Conxa nur, wenn Jaume seine politischen Ansichten kundtut. Er ist glühender Verfechter der sozialen Gleichheit und unterstützt die spanische Republik, während für Conxa die Politik etwas ist, das weit jenseits des Horizonts ihres Bergdorfs liegt und somit fast irreal und beängstigend ist.

Bürgerkrieg erreicht jeden Winkel des Landes

Conxas düstere Vorahnung bestätigt sich insofern, als die Grauen des spanischen Bürgerkriegs alsbald bis in die abgelegenen Winkel der katalanischen Bergwelt vordringen. Jaume, der für die gewählte sozialistische Regierung das Amt eines Friedensrichters bekleidete, wird nach dem Vorrücken der faschistischen Truppen verhaftet und, wie sich später herausstellen wird, ermordet. Auch Conxa und ihre beiden Töchter werden für eine gewisse Zeit inhaftiert.

Nach der Rückkehr in ihr heimatliches Dorf fristet die verwitwete Conxa ihre Tage ohne rechte Lebensfreude. Sie erlebt in den folgenden 30 Jahren mit, wie ihre beiden Töchter auf andere Höfe in anderen Dörfern einheiraten und wie Onkel und Tante sterben. Der jüngste Sohn Mateu, der eigentlich als Hoferbe vorgesehen war, eröffnet ihr schließlich, dass seine Frau und er eine Pförtnerloge in Barcelona übernehmen und dem althergebrachten Leben im Dorf den Rücken kehren wollen. Die Mutter begleitet sie und wird somit ihrem natürlichen Lebensumfeld entrissen. Doch Conxa, die sich nie beklagt hat, bleibt auch in ihren letzten Tagen versöhnlich:

Barcelona, das ist für mich etwas sehr Schönes. Die letzte Stufe vor dem Friedhof. (Seite 107)

Liebe und Tod in einfachen Worten

Maria Barbal lässt uns in der authentischen, geradlinigen Sprache Conxas an diesem – bis auf die Dramatik der Kriegsereignisse – scheinbar ganz normalen, einfachen Leben teilhaben. Doch auch wenn Conxa vermeintlich schlichte Sätze formuliert, schwingt darin doch eine Warmherzigkeit und unprätentiöse, volkstümliche und zarte Poesie mit, die den Text sehr bewegend macht. Was für eine schöne Liebeserklärung ist es etwa, die sie Jaume macht:

Man hätte meinen können, Jaume sei einzig und allein nur deshalb auf der Welt, um mir all meine Ängste zu nehmen, ein Licht anzuzünden, wo ich nur Dunkelheit sah, und um alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, wenn sie sich vor mir wie ein riesiger Berg aufzutürmen schienen. (Seite 30)

Zu Herzen ging mir auch die Schilderung des Todes der Tante.

Über all dem starb uns die Tante. Eines Morgens, ganz erstaunt, daß sie noch nicht aufgestanden war, fanden wir sie in ihrem Bett, zusammengerollt wie einen Spatz. Sie war von uns gegangen, ohne uns auch nur die geringste Arbeit gemacht zu haben, noch nicht einmal einen Kräutertee hatten wir ihr aufgebrüht. (Seite 97 f.)

Im Guten wie im Schlechten: Conxa gibt ihre Gefühle knapp und ohne Larmoyanz, Pathos oder Rührseligkeit wieder. Doch gerade diese Reduziertheit und Unmittelbarkeit berührt beim Lesen und lässt mitfühlen.

Das gilt auch für ihre Schilderungen des arbeitsreichen, harten bäuerlichen Lebens. Die täglichen Verrichtungen, aber auch die Freude an der Natur, die Müdigkeit, die Zwänge und das Einssein mit dem Lebensumfeld: Als Leser fühlte ich mich direkt hineinversetzt in eine Realität, die doch ganz weit weg ist von meiner – eine Welt, in der schon der Weg ins nächste Dorf viel zu beschwerlich ist, sodass kaum Kontakt zur Außenwelt besteht; in der der Umgang mit Bargeld kaum an der Tagesordnung ist; in der Menschen keine individuelle Verwirklichung suchen und – besonders die Frauen – sich den vorgegebenen Bahnen zu fügen haben, ohne Hadern ihre festgefügten Rollen einnehmen und sich der Autorität der Familie beugen.

Stille revolutionäre Kraft

Wobei Conxa eben doch eine stille revolutionäre Kraft entwickelt, indem sie letztlich die Liebesheirat mit Jaume durchsetzt. Zudem wird sie durch ihre Solidarität mit Jaume, ohne es anzustreben, so etwas wie ein subversives Element in der faschistischen Franco-Diktatur. Aussagekraft hat es auch, dass sich die Tochter Elvira den Avancen des Sprösslings einer einflussreichen, wohlhabenden Familie im Dorf entzieht.

Conxa sucht in ihrem Leben niemals Streit und Konfrontation, sagt über sich selbst, dass sie „ganz einfach nie verstanden hatte aufzubegehren“ (Seite 103). Doch in den Jahren der Diktatur lässt sie sich auch nicht vom Faschismus vereinnahmen. Während andere begeistert den Arm heben, wenn im Radio die Nationalhymne erklingt, und sich gut dabei fühlen, endlich andere klein halten zu können, spricht Conxa ihr stilles Gebet weiter auf Katalanisch und nicht, wie befohlen, auf Spanisch. Die Jahre des Franco-Regimes erlebt sie als bleierne Zeit. „Die Jahre nach dem Krieg, das war alles eins, nichts hatte sich bewegt, nichts verändert“ (Seite 99). Und sie durchschaut intuitiv die Mechanismen einer totalitären Gesellschaft: „Zu begreifen, dass es eine Art von Menschen gibt, die mit großer Strenge erzogen wurden und die deshalb nur vor demjenigen Achtung haben, der sie herumkommandiert“ (Seite 100).

Klassiker der katalanischen Literatur

Ohne dass Conxa selbst es so aussprechen würde, ist ihr Lebenslauf mit Sicherheit auch politisch zu lesen. Conxas privates Glück endet abrupt und grausam mit der Niederlage der Republik im Bürgerkrieg, der auch die Dorfgemeinschaft nachhaltig vergiftet. Ihr Dasein als Witwe, die „zu einem lebendigen Gestein“ (Seite 103) geworden ist, wird mit dem Stillstand und der Unfreiheit in der Diktatur parallel gesetzt. Spanisch wird sie nie sprechen, sie erlebt es als aufoktroyierte Sprache der Unterdrücker. Wie ein Stein im Geröll lässt die Leser*innen ahnen, welches historische Erbe bis heute in der katalanischen Autonomiebewegung und der nachhaltigen Abneigung gegen die Madrider Zentralregierung mitschwingt (auch wenn sich der politische Rahmen dafür längst grundlegend geändert hat).

Vor diesem Hintergrund ist es schon eine politische Manifestation per se, dass die Autorin Maria Barbal auf Katalanisch schreibt. Sie gilt als eine der wichtigsten zeitgenössischen Stimmen der katalanischen Literatur, Pedra de tartera, wie der 1984 erstveröffentlichte Roman im Original heißt, gilt als Klassiker mit über 50 Auflagen und ist schon somit ein Eckpfeiler einer eigenständigen katalanischen Kultur.

Conxas Aufbruch nach Barcelona schließlich mag historisch schon in die Zeit der jungen spanischen Demokratie fallen. Die Romanheldin sieht Barcelona als „etwas sehr Schönes“ (Seite 107), in dem sie selbst aber kein echtes Zuhause mehr finden kann. Mit ihrem Leben erlischt auch eine ganze Welt, die durch die erdrutschartigen Veränderungen des 20. Jahrhunderts mit sich gerissen wurde.

  • Maria Barbal, Wie ein Stein im Geröll. Die mir vorliegende Ausgabe: Aus dem Katalanischen übersetzt von Heike Nottebaum, Mit einem Nachwort von Pere Joan Tous, Transit Buchverlag, 126 Seiten. Aktuell erhältlich: Überarbeitete Neuausgabe, Diana Verlag, 208 Seiten, 12 Euro.

5 Kommentare zu “Maria Barbal, Wie ein Stein im Geröll

  1. Ich habe das Buch vor einigen Monaten wiedergelesen – eines, das einen festen Platz in meinem Bücherregal behält. Gerade durch diese „einfache“ Sprache, die Schilderung des Lebens einer „einfachen“ Frau – was ein literarisches Kunststück ist, solche Einfachheit zu meistern, ohne dass es platt ist – hinterlässt der Romane einen tiefen Eindruck.

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  2. Ich habe Maria Barbal erst vor einem Jahr überhaupt entdeckt und war auch hin und weg. Nach ihrem bekanntesten Werk habe ich dieses Jahr auch direkt ein zweites Buch von ihr gelesen: Die Zeit, die vor und liegt. Kommt aber nicht an „Wie ein Stein im Geröll“ heran.

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  3. Pingback: Mein Lesejahr 2025: Ein Rückblick | BuchUhu

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