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Der Bau des Walchenseekraftwerks in Kochel am See, geplant von Oskar von Miller, gilt als Meilenstein der Ingenieurskunst und der Technikgeschichte Bayerns. Bis heute zählt es zu den größten Hochdruck-Speicherwerken Deutschlands und liefert, mittlerweile betrieben vom Konzern Uniper, weiterhin zuverlässig erneuerbare Energie aus Wasserkraft. Genau 100 Jahre nach der Inbetriebnahme erschien 2024 ein Roman, der die Leser mitnimmt in die Entstehungszeit des Kraftwerks. In Triebwasser schildert die Autorin Sandra Altmann eine ländliche, abgeschiedene Lebenswelt am Walchensee, die, noch verhaftet in traditionellen Denkweisen und soeben durchgerüttelt von den Schrecken des Ersten Weltkriegs, nun mit dem Einzug der Moderne mitsamt ihren Verheißungen und Bedrohungen konfrontiert ist.

Die dunklen Seiten des Walchensees

Persönlich liebe ich den Walchensee als sommerliches Ausflugsidyll, das sich trotz seiner landschaftlichen Attraktivität und des regelmäßigen Ansturms der Münchner doch etwas Unverfälschtes erhalten hat. Das liegt vielleicht mit daran, dass die Anreise mit der Beschwerlichkeit verbunden ist, die Serpentinen des Kesselbergs zu überwinden, oder damit, dass das Wasser selbst im Hochsommer zu kalt und zu tief ist, um es den Badegästen allzu gemütlich zu machen. Zumindest am von mir präferierten Südufer ist auch die Infrastruktur nicht so weit entwickelt, dass man sich wie an einem touristischen Strandbad fühlt, sondern sich an Wochentagen einfach in freier Natur wähnen kann.

Über dem Walchensee in Oberbayern braut sich ein Gewitter zusammen. Foto: Andreas Steppan

Im Roman Triebwasser zeigt uns Sandra Altmann den Walchensee darüber hinaus zu Jahreszeiten, in denen seine sommerliche Schönheit ganz in den Hintergrund tritt, sondern der tiefe, von Bergen eingekesselte See endgültig etwas Mythisches, durchaus Bedrohliches, manchmal Klaustrophobisches an den Tag legt.

Die Handlung, die von Ende 1918 bis Anfang 1920 spielt, siedelt sie im fiktiven Weiler Desselgrub an. Der Name ist angelehnt an den real-geografischen Gipfel Desselkopf und die von dort in Richtung See führende steile Bergflanke Desselgraben. Die drei Gehöfte, die Desselgrub bilden, erinnern an die Anwesen auf der Halbinsel Zwergern am Walchensee. Inspiration dafür holte sich Altmann zudem in Bauernhäusern, die im Freilichtmuseum Glentleiten im nahe gelegenen Großweil wiederaufgebaut sind.

Einzug der Moderne in Oberbayern

Drei jeweils auf eigene Art versehrte Familien bewohnen Desselgrub und erleben den Einzug der Moderne durch den Bau des Walchenseekraftwerks auf unterschiedliche Art. Da ist etwa die selbstbewusste, kluge Geschäftsfrau Irmi. Früh verwitwet, führt sie nun ein unabhängiges Leben als Waldbäuerin und profitiert davon, dass ihr die Kraftwerksbauer für die Stollen viel Holz zu einem guten Preis abnehmen. Männliche Unterstützung hat sie von ihrem Schwager Johann, der in einem Schuppen am Hof untergebracht ist.

Ebenfalls verwitwet ist der Bewohner des benachbarten Hofs, Veitl, dessen Frau in jungen Jahren einer Lungenkrankheit erlegen ist. Nun muss er sich allein um drei Kinder und den alten Vater kümmern. Im Krieg hat er zudem ein Bein verloren, sodass er seinen Beruf als Fischer nicht mehr ausüben kann und notgedrungen auf das Transportgewerbe ausgewichen ist. Auch für ihn sind die Bauherren des Kraftwerks ein lukrativer Auftraggeber, gilt es doch, Sprengstoffladungen vom Kochler Bahnhof zum Kesselberg zu schaffen. Veitl kommt auf die unglückselige Idee, ein paar Dynamitstangen für sich selbst abzuzweigen, um in Eigenregie die engen Kurven seiner Zufahrtswege zu verbreitern.

Das Walchenseekraftwerk in Kochel am See gilt als Meilenstein der bayerischen Technikgeschichte. Foto: Andreas Steppan

Herr auf dem dritten Anwesen ist schließlich der Fischer Hartl. Im Krieg hat er seinem besten Freund Veitl das Leben gerettet. Er fürchtet aufgrund des gigantischen Natureingriffs durch das Kraftwerk um seine Fischgründe. Den wirtschaftlichen Herausforderungen der neuen Zeit versucht er, durch die heimliche Zucht von wieselartigen Nagetieren im Bergwald zu begegnen. Mehr beschäftigt ihn aber sein sexuelles Begehren. Schon immer hatte er ein Auge auf die fesche Irmi geworfen. Doch die war nach seiner Rückkehr aus dem Krieg mit einem Österreicher verheiratet und will auch jetzt, da sie wieder frei wäre, nichts von ihm wissen. Dabei würde der Hartl allzu gern aus seiner Ehe mit der gutherzigen, aber geistig etwas minder bemittelten Gusti, die noch dazu einen großen Kropf hat, ausbrechen.

Dörfliche Gemeinschaft im Blick

Aus den drei Familien, den jeweils mit im Haus lebenden Vertretern der Eltern-Generation sowie den insgesamt sieben Kindern bildet Altmann ein breit aufgestelltes Panoptikum an Figuren, das sie noch um zwei „Zugereiste“ ergänzt, den aus München in die Einöde am Walchensee versetzten Lehrer Ewald Falkinger und Dominikus Steiner, der auf der Kraftwerksbaustelle als Sprengmeister tätig ist, und zusammen mit dem Lehrer eine zugige Unterkunft in einer Bootshütte bezogen hat.

Keine einzelne Figur, sondern eher eine dörfliche Gemeinschaft in den Blick zu nehmen, passt sicherlich zu einer Zeit und einem Umfeld, in denen dem Individuum weit weniger Gewicht beigemessen wurde als heute. Doch bei dem guten Dutzend an Protagonisten – davon mehrere mit auf ähnliche Art bajuwarisierten Namen: Hartl, Veitl, Loisl, Burgl, Xaverl etc. – ist es für den Leser nicht immer ganz leicht, den Überblick zu behalten.

Der potenziellen Verwirrung tritt Sandra Altmann mit einer klaren, stringenten Romanstruktur entgegen. Jedem Kapitel ist als Überschrift die zeitliche Verortung vorangestellt. Immer um einen Monat geht es dabei voran: von November 1918 bis Februar 1920. Die einzelnen Kapitel wiederum sind immer in zwei Teile aufgeteilt.

Der jeweils erste davon ist in dritter Person geschrieben und nimmt eine oft jahreszeitlich geprägte Szene in den Blick, wofür der Einstiegssatz mit einer kurzen Natur- oder Wetterimpression den Ton setzt: Da heult der Sturm, am Berghang schmilzt der letzte Schnee, oder die Libellen regen sacht ihre Schwingen.

Schicksale nach dem Ersten Weltkrieg

In der zweiten Kapitelhälfte spricht dann in Ich-Form einer der Bewohner von Desselgrub, stets eingeführt durch eine Titelzeile unter Nennung des kompletten Namens, des Rufnamens, des Berufs und des Alters, etwa so: „Der Nothegger Veit, genannt Veitl, Fuhrunternehmer, vormals Fischer, 36 Jahre alt“ (Seite 40). Hier erinnern sich die Figuren dann meist an prägende Lebensereignisse – und die sind oft düster grundiert. Es beginnt damit, dass Veitls Vater Ignatz daran zurückdenkt, wie in seiner Kindheit in seinem Beisein ein Urlauberbub im Walchensee ertrank. Veitl selbst geht gedanklich zu den Umständen, unter denen er im Krieg sein Bein verlor. Durch den Kopf von Johann, Irmis Schwager, geistert jener Arbeitsunfall beim Holzholen am Berg, bei dem sein Bruder, Irmis Mann, ums Leben kam.

Sandra Altmann kommt ihren Figuren in diesen Passagen sehr nah. Sie gibt damit einen authentischen, plastischen Einblick in die harten Lebensumstände der geschilderten Zeit und lässt gleichzeitig sensibel nachfühlen, welche Narben die Schicksalsschläge bei den Menschen hinterließen. Immer wieder gelingen ihr im Kontrast zu der beschriebenen rauen Lebenswirklichkeit sehr zarte, berührende Passagen, ohne dass sie je ins Sentimentale abdriften würde. Ihren Figuren verleiht sie damit mehr Tiefe, als man ihnen von außen zugetraut hätte. Nur bei zehnjährigen Kindern weiß ich nicht immer, ob ich diese gedankliche und emotionale Vielschichtigkeit ganz glaubwürdig finde. Ein Beispiel:

Manchmal stelle ich mir vor, wie es ist, wenn einem die Erde auf den Sarg geschaufelt wird. Ob dann wenigstens ein Fünkchen Licht durch den Boden scheint, frage ich mich. Früher habe ich gedacht, dass man bestimmt auch unter der Erde die Vögel singen hört und spürt, wie der Schnee fällt. Aber mittlerweile weiß ich, dass das falsch ist: Unter der Erde ist es dunkel wie nirgends auf der Welt. Kein Geruch, kein Ton, kein Lichtstrahl dringt hinunter. Nichts erinnert da unten an das Leben, nicht einmal die Todesboten sind in der Grube zu hören: kein Waldkauz, keine Krähen, kein Totenwurm, der klopft. Es ist einfach still. Auch kein Schatten ist zu erkennen, weil völlige Dunkelheit herrscht und das Schwarze schwärzer als jeder Schatten ist. (Seiten 136 f.)

Die morbide Poesie ist wunderschön, und sie geht unter die Haut – nur bringe ich sie nicht ganz mit dem zuvor als nicht sonderlich helle beschriebenen zehnjährigen Muk zusammen. Selbst wenn man auch Kindern bestimmte Seelenabgründe nicht pauschal absprechen möchte, zweifle ich doch daran, dass der Bub sie auf diese Weise artikulieren könnte.

Zwischen Dialekt und Hochsprache

Das entspricht überhaupt dem schmalen Grat, auf dem sich die Autorin sprachlich bewegt. In ihr Schrift-Deutsch übernimmt sie bestimmte grammatikalische Merkmale des Bairischen, wie die Voranstellung des Artikels vor einem Namen („der Hartl“) oder die Verwendung des Perfekts statt des Imperfekts. Das Ergebnis ist – wie immer, wenn sich in Büchern Dialekt und Hochsprache mischen – eine Art von Kunstsprache, bei der nicht ganz leicht die Balance zu halten ist, die sich hier aber auf alle Fälle flüssig liest.

Völlig stimmig sind jedenfalls die regionalen örtlichen Gegebenheiten, die Sandra Altmann schildert. Über die reinen Ortsangaben hinaus reichert sie ihre Landschaftsbeschreibungen mit stimmungsvollen Bildern an, die die ganz besondere Atmosphäre des Bergsees einfangen. Sehr gut gefallen hat mir auch die dezente Anreicherung des Textes mit der Erwähnung historischer Figuren – nicht nur des großen Ingenieurs Oskar von Miller, sondern auch des an der Front gefallenen Lyrikers August Stramm oder des Males Lovis Corinth, der am Walchensee lebte. Damit macht sie den Zeitkontext noch einmal facettenreicher.

Sehr gut eingefangen finde ich zudem die Mentalität in einem abgelegenen, ländlichen Umfeld zwischen Tradition und Umbruch, Aberglaube und Aufgeklärtheit. Die Ängste, die Abwehrreaktionen, die Zweifel auf der einen Seite, die Fortschrittsgläubigkeit und das Wittern guter Geschäfte auf der anderen Seite: Das kommt glaubhaft rüber. Sandra Altmann zeichnet das Bild einer Epoche und fängt zugleich zeitlose menschliche Verhaltensweisen ein.

Insofern bringt sie auf den gerade einmal gut 170 Seiten ihres Romans sehr viel unter. Weit über das rein lokalpatriotische Interesse hinaus, das ich als Liebhaber des Walchensees an dem Text habe, bietet der Roman hohe literarische Qualitäten an, die ihn unbedingt lesenswert machen.

  • Sandra Altmann, Triebwasser, Volk Verlag, 176 Seiten, 22 Euro.

5 Kommentare zu “Sandra Altmann, Triebwasser

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