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Das Leben hat mich an den Ort zurückgeführt, in dem ich aufgewachsen bin: nach Waldram, einen Ortsteil von Wolfratshausen. Auch wenn ich nie wirklich weit weg war und mein Elternhaus hier immer eine feste Anlaufstelle blieb, glaubte ich doch, nach meiner Jugend der gefühlten Enge dieses Ortes entkommen zu sein. Jetzt wohne ich seit über zwei Jahren wieder hier, um meine Mutter zu pflegen, und dieser Umstand bringt es mit sich, dass ich mich ein wenig mehr mit dieser „Heimat“ auseinandersetze. Doch auch für einen Außenstehenden ohne persönlichen Bezug würde sich das lohnen. Denn Waldram ist ein Ort mit einer ganz besonderen Geschichte, in der sich einige der Wechselfälle des 20. Jahrhunderts spiegeln.

Zwei Waldram-Bücher habe ich in den vergangenen Wochen gelesen. Viel Spannendes aus der Geschichte ist in dem Sachbuch Föhrenwald, das vergessene Schtetl von Alois Berger zu erfahren. Sich auf poetischen Wegen der Seele des Ortes anzunähern, dabei hilft hingegen die autobiografische Gedankensammlung Jeder ist wer des Kabarettisten Josef Brustmann.

Ort mit besonderer Geschichte

An der Stelle des heutigen Ortsteils Waldram befand sich bis 1939 nichts anderes als ein ausgedehntes Waldgebiet entlang der Isar südlich von Wolfratshausen – bis die Nazis begannen, noch einige Kilometer weiter südlich zwei große Rüstungsbetriebe ins von Bäumen gut getarnte Nirgendwo zu bauen. Die Häuser von „Föhrenwald“ wurden als Unterkünfte für dort eingesetzte Arbeiter – nach nicht allzu langer Zeit waren es Zwangsarbeiter – aus dem Boden gestampft.

Enge Reihenhäuser mit spitzen Giebeln prägen das Bild im Ortskern von Waldram. Erbaut wurden sie in der Nazizeit und dienten ursprünglich als Unterkünfte für (Zwangs-)Arbeiter in den Rüstungsfabriken im heutigen Geretsried. Foto: Andreas Steppan

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Bauten als Camp für Displaced Persons genutzt, also Menschen aus vielerlei Nationen, die der Krieg heimatlos gemacht hatte. Bald waren hier in erster Linie aus des KZs befreite Juden untergebracht. Viele von ihnen warteten in Föhrenwald auf die Ausreise nach Palästina oder zu anderen Zielen ihrer Emigration. Irgendwann steckten hier nur mehr diejenigen fest, denen eine Tuberkulose-Diagnose oder der Verdacht darauf die Türen der möglichen Aufnahmeländer verschlossen. Auch für Juden, die nach dem Krieg vor antisemitischen Pogromen in Polen flohen, wurde Föhrenwald zur Anlaufstelle, ja selbst für illegale Rückwanderer aus Israel.

Mitte der 1950er-Jahre kaufte die katholische Kirche die Siedlung auf, sanierte die vorhandenen Häuser und verkaufte sie günstig an deutsche heimatvertriebene Familien, die möglichst kinderreich sein sollten und einen bestätigt christlichen Lebenswandel führten. Die im Lager verbliebenen Juden wurden zu diesem Zweck vielfach gegen ihren Willen hinausgedrängt. Aus „Föhrenwald“ war nun „Waldram“ geworden, so benannt nach einem Abt, der im 8. Jahrhundert das nahegelegene Kloster Benediktbeuern mitgegründet hatte.

Aus dem Schatten der Verdrängung

Auf die Jahre des „Judenlagers“ richtet der Journalist Alois Berger den Blick in seinem äußerst erhellenden Buch Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Ein Stück weit zu Recht sieht er sich vor der Aufgabe, diese Geschichte aus dem Schatten der Vergessenheit beziehungsweise der Verdrängung zu holen. Denn als Berger selbst in Wolfratshausen aufwuchs und sogar unmittelbar in Waldram das kirchliche Gymnasium St. Matthias besuchte, sei ihm dieses Kapitel praktisch unbekannt gewesen, berichtet er. Niemand habe darüber gesprochen.

Der Erinnerungsort Badehaus im heutigen Waldram erinnert an die Geschichte des Ortes, der von 1945 bis 1957 unter der Bezeichnung Föhrenwald heimatlos gewordenen Juden eine Zuflucht bot. Foto: Andreas Steppan

Diese Lücke füllt Berger mit vielen spannenden Fakten. Dazu begab er sich auf die Spur etlicher Zeitzeugen, die im damaligen Föhrenwald aufwuchsen und die heute weit über den Globus verstreut leben. Mithilfe ihrer unmittelbaren Schilderungen entsteht ein lebendiges und sehr berührendes Bild eines Ortes, an dem sich aus dem unsagbaren Leid des Holocaust heraus doch wieder zarte Pflanzen des Lebenswillens entwickeln, in dem jedoch auch Traumata und Ängste fortleben, der gleichzeitig Zwischenstation und eine Art sicherer Hafen für die Menschen ist.

Föhrenwald wird zu einer Art jener Schtetl, die aus Osteuropa gewaltsam verschwunden sind. Umgangssprache ist hier Jiddisch. In der oberbayerischen Umgebung jedoch halten sich hartnäckig Berührungsängste, Misstrauen und antisemitische Klischees.

Vorgeschichte der Staatsgründung Israels

Gleichzeitig bettet Berger die persönlichen Geschichten auf faszinierende Weise in einen größeren historischen Kontext ein. In Föhrenwald kondensiert sich die Vorgeschichte der Gründung des Staates Israel. Hier prallen verschiedene Strömungen aufeinander, etwa die Entwicklung einer chassidischen Gemeinde, der wiederum die weltlich ausgerichteten Vertreter der zionistischen Bewegung gegenüberstehen. Man lebt zum Teil in einer Art von Kibbuz und trainiert im nahegelegenen ehemaligen HJ-Freizeitlager in Königsdorf für den zu erwartenden Krieg in Palästina.

Als Waldramer wird man sich mehr als einmal verwundert die Augen reiben, in welch engem und dramatischen Zusammenhang das heute so unscheinbare Örtchen mit der Weltgeschichte steht. Doch für Nicht-Waldramer ist es ebenfalls augenöffnend, geschichtliche Entwicklungen zu reflektieren, die uns bis heute beschäftigen.

Autobiografische Notizen aus Waldram

In einem gänzlich anderen Duktus geschrieben sind die autobiografischen Notizen im Büchlein „Jeder ist wer“ von Josef Brustmann. Inhaltlich aber knüpft das Werk teils nahtlos an Bergers Ausführungen an. So konstatiert auch der ab dem Alter von drei Jahren in Waldram aufgewachsene Brustmann als Sohn heimatvertriebener Eltern, die zu den ersten Waldramer Siedlern gehörten:

„Was in der Rückschau verblüfft und verstört: Wir Waldramer Kinder wuchsen ohne jegliches Wissen über Waldrams Vorgeschichte auf. (…) Nur kurze Zeit vor der Ankunft unserer Familie hatte es in Waldram/Föhrenwald ein komplettes Schtetl-Leben gegeben, mit Synagoge, Ritualbad, koscherer Großküche, Religionsschulen, Laubhüttenfest, Theater- und Musikgruppen. Aber niemand sprach mehr darüber. Alles sank kollektiv-betäubt zurück in eine merkwürdig amnesische Vergessenheit.“ (Seite 39)

Es mag, so analysiert Alois Berger in seinem Buch, eine gewisse Opfer-Konkurrenz gewesen sein, die die heimatvertriebenen Neubürger von einer Auseinandersetzung mit dem Schicksal der vor ihnen hier lebenden Juden abhielt, ja sogar zu einer Empathielosigkeit beitrug. Josef Brustmann schildert, wie der Vater einmal jegliche deutsche Verantwortung am Holocaust von sich wies mit der Begründung, Auschwitz liege ja in Polen.

Gleichzeitig nähert er sich den Charakteren seiner Eltern mit Wärme und Respekt.

„Waldram war für meine Eltern das große Glück in ihrem Leben, ein Glück, auf das man nach verlorenem Krieg und Heimatverlust niemals zu hoffen gewagt hätte. Ihre Dankbarkeit der Kirche und den Staatsträgern gegenüber hielt lebenslänglich, war unverbrüchlich.“ (Seite 38)

Familiengeschichte in Kodau

Jeder ist wer ist zu wichtigen Teilen, aber längst nicht nur ein Buch über Waldram. In kurzen Kapiteln, mit vielen Fotos, ja sogar einigen Gedichten skizziert Brustmann auch die Familiengeschichte im tschechischen Kodau. Er portraitiert die Großväter, die beide Selbstmord begingen. Brustmann erzählt von seinen Geschwistern, von denen zwei in frühen Kindertagen gestorben sind. Es blieben noch immer sieben Brustmann-Kinder, die musikalisch von sich reden machten und auch mir als Waldramer natürlich ein fester Begriff waren, ebenso wie die wiederum sieben Kinder eines Bruders von Josef Brustmann.

Es geht – ein wenig assoziativ hin- und herspringend – aus der Geschichte zu den Kindheits- und Jugenderinnerungen des Autors. Dann schildert er, wie er den sicheren Lehrerberuf an den Nagel hängte, um eine erfolgreiche, aber wirtschaftlich bisweilen prekäre Musiker-Karriere als Teil der Gruppe „Bayrisch-diatonischer Jodelwahnsinn“ zu starten.

Nicht alles davon fesselt gleichermaßen, aber Brustmann gelingen immer wieder Skizzen, die berühren und im Gedächtnis bleiben. Der Kabarettist beweist mehr als einmal ein Gespür für feine Pointen und die Musikalität der Sprache. Dabei findet er einen ganz eigenen Erzählton, der teils nah am Regional-Mündlichen ist und sich dann wieder durch originelle Wortneuschöpfungen davon absetzt.

Aus den Bruchstücken von Familien-Historie, Memoir und Selbstreflexion entsteht, so disparat das Gesamtmosaik erscheinen mag, ein Bild von Waldram, in dem ich mich durchaus wiederfinde. Es ist eine „Heimat“, ja, aber eine mit Brüchen und Widersprüchen. Die Menschen, die es aus unterschiedlichen Gründen hierher verschlagen hat, verbindet vielleicht vor allem eins, das Josef Brustmann so formuliert:

„Was ein Eingeborener ist, ein Dasiger, wie ihn der Bayer nennt, werde ich nie wissen. Auch nicht, was Fremdsein bedeutet. Immer schon so zwischendrin, so zwischen den Stühlen saß ich. Dass dieses ,Zwischendrin‘ nie zur Last wurde, verdanke ich dem glücklichen Zufall, in Waldram aufgewachsen zu sein. In Waldram waren alle gleich, alle waren gleich arm, alle waren gleich fremd.“ (Seite 34)

Das Museum Erinnerungsort Badehaus arbeitet die Geschichte von Föhrenwald/Waldram sehr gut auf. Foto: Andreas Steppan

Selbst kann ich das „Zwischendrin“ gut nachvollziehen. Denn natürlich fühle ich mich in Waldram alles andere als fremd, ich bin ich Wolfratshausen geboren und in Waldram aufgewachsen, bis ich 23 oder 24 war. Zu 100 Prozent als „Dasiger“ (ich würde ja sagen, es heißt „Doiger“, aber was weiß ich schon) fühle ich mich aber auch nicht, denn meine Eltern sind keine eingesessenen Bayern, kamen 1972, also drei Jahre vor meiner Geburt, als Zugezogene hierher und gehören somit auch nicht zur Gruppe der klassischen Waldramer Siedler. Andererseits teilt mein Vater mit Letzteren den osteuropäischen Hintergrund und die Vertreibungsgeschichte, wenn auch in einer etwas anderen Variation. Er ist in der Bukowina (heute Grenzgebiet Rumänien/Ukraine) geboren, seine Eltern wanderten 1940 freiwillig „heim ins Reich“ aus, wurden als „Volksdeutsche“ im Elsass angesiedelt und von dort nach Kriegsende nach Rheinland-Pfalz vertrieben. Ein Teil der Erfahrungen meiner Vorfahren hat trotz der Unterschiede freilich Ähnlichkeiten mit denen der Waldramer Siedler – und sei es nur das Gefühl des Fremdseins.

Mein Vater hat übrigens 1982 selbst einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte von Föhrenwald/Waldram geleistet, indem er gemeinsam mit dem Initiator Josef Reiss die Ortschronik Waldram. Anspruch auf Vergangenheit und Zukunft verfasst hat. Dass die Geschichte des Ortes als DP-Lager vollkommen verschwiegen wurde, kann man also nicht sagen, auch wenn einzuräumen ist, dass den Ausführungen meines Vaters die Innensicht der jüdischen Bewohner Föhrenwalds völlig fehlte. Hier blieb noch sehr viel aufzuarbeiten, was mittlerweile zum Glück in dem Museum Erinnerungsort Badehaus und auch durch das Buch von Alois Berger umfassend geschehen ist.

  • Alois Berger, Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Ein verdrängtes Kapitel deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte, Piper, 240 Seiten, 24 Euro.
  • Josef Brustmann, Jeder ist wer. Menschenwege in Herzgegenden, Allitera, 140 Seiten, 20 Euro.
  • Der Erinnerungsort Badehaus befindet sich am Kolpingplatz 1 in Wolfratshausen-Waldram. Geöffnet ist freitags von 9 bis 17 Uhr sowie samstags und sonntags von 13 bis 17 Uhr. Für angemeldete Führungen gelten erweiterte Öffnungszeiten. Der Eintritt kostet 6 Euro (ermäßigt: 3 Euro).

3 Kommentare zu “Meine Heimat im Buch: „Föhrenwald, das vergessene Schtetl“ und „Jeder ist wer“

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