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Mit dem Starnberger See assoziiere ich vor allem ein seichtes Badegewässer vor den Toren Münchens, umrahmt von einem sanft-blauen Bergpanorama, dessen größte Bedrohlichkeit in der Überfüllung durch Erholung suchende Städter besteht. Es handelt sich um ein Idyll meiner Jugend. Ein Badeausflug von meiner Geburtsstadt Wolfratshausen aus „an den See“ war der Inbegriff sommerlicher Unbeschwertheit.

Heimatroman vom Starnberger See

Ja, liebe Blog-Leser, wir befinden uns literarisch ein weiteres Mal in meiner Heimatregion im Süden Münchens. Doch die Heimat, als die Josef Bierbichler den Starnberger See in seinem 2011 erstveröffentlichten Roman Mittelreich beschreibt, steht – bei allem Reiz am Wiedererkennen – auch in scharfem Kontrast zu meiner eigenen biografischen Perspektive. Denn Mittelreich ist alles andere als sanft und idyllisch, sondern derb, aufgewühlt, voll innerer Spannung, laut, kraftvoll – eine Naturgewalt.

Kein Wunder also, dass nicht etwa eine hübsche Seenansicht den Einband ziert, sondern ein bedrohlicher Blick in die kargen Äste eines mächtigen Baums vor Unheil verheißendem Wolkenhimmel. Für die alteingesessene bäuerliche Bevölkerung, die Bierbichler in den Blick nimmt, ist das Leben in dieser ländlichen Region Bayerns von Härten, von Arbeit und vom Existenzkampf geprägt. Und im 20. Jahrhundert zusätzlich von den Grausamkeiten und verheerenden Folgen zweier Weltkriege.

Angelehnt an die eigene Familiengeschichte zeichnet der als Schauspieler berühmt gewordene Bierbichler, der selbst der traditionsreichen Wirtschaft „Zum Fischmeister“ in Ambach am Starnberger See entstammt, eine Dynastie über drei Generationen hinweg. Im Mittelpunkt steht dabei Pankraz, Seewirt wider Willen. Im Ersten Weltkrieg schlägt eine feindliche Kugel durch den Stahlhelm hindurch in den Kopf seines älteren Bruders ein. Die Verletzung überlebt er zwar, doch bald muss sich die Familie eingestehen, dass er nicht mehr in der Lage ist, das Familienerbe fortzuführen. Pankraz, dem Jüngeren, bleibt keine Wahl, als Hof und Gastwirtschaft zu übernehmen. Dabei hatte er doch in Gesangsstunden bei der ehemaligen Kammersängerin Krauss, die sich im Dorf einquartiert hat, eben erst seine musische Ader gepflegt und den Berufswunsch Sänger entwickelt.

Mit Wagner-Arie gegen den Sturm

Noch lange und häufig wird Pankraz hadern: mit sich selbst, den Zeitläuften, der Selbstverleugnung, den Pflichten und der Enge, die ihm das Leben auferlegt hat. Im Zweiten Weltkrieg wird auch er schwer verwundet. Er entgeht nur knapp einer Beinamputation, indem er mit kurzzeitig aufwallendem Selbstbewusstsein dem abgebrühten Lazarettarzt widerspricht.

Jahre nach seiner Rückkehr erlebt er einen existenziellen Wendepunkt in seiner Einstellung zur ererbten Bürde. In einer heftigen Sturmnacht droht er zunächst angesichts der drohenden Zerstörung von Haus und Hof und der Aussicht auf den nötigen Kraftakt des Wiederaufbaus zusammenzubrechen. Doch seine Frau Theresa zeigt sich abgestoßen von dem wimmernden Häuflein Elend, das da vor ihr kauert. Am Ende trotzt der Seewirt der Naturgewalt, stellt sich – eine bizarre, surreale und doch in ihrer Symbolik starke Szene – auf einen Steg am See und singt mit einer Wagner-Arie gegen den Sturm an. Es ist der Moment, der sinnbildlich für seine Annahme der Verantwortung und der Herausforderung steht.

Ob sich in der nächsten Generation ein weiterer Seewirt findet, der willens und in der Lage ist, die Last des Erbes auf sich zu nehmen? Am Ende des Romans sieht es nicht danach aus. Denn Pankraz‘ Sohn Semi wendet sich zum großen Frust des Vaters radikal von allem Althergebrachten ab, vom Katholizismus, vom politischen bayerischen Konservatismus wie auch vom Pflichtgefühl für den Familienbesitz. Was keiner weiß: Semi ist seelisch am Missbrauch durch einen Pater im Klosterinternat zerbrochen. In der Familie hat er weder Glauben noch Rückhalt gefunden. Mit dem im Alkoholismus versinkenden, zynischen Semi geht die Seewirts-Dynastie offensichtlich dem Untergang entgegen.

Dörfliches Panoptikum

Doch die Zusammenfassung der Familiengeschichte erfasst den Inhalt von Mittelreich nur äußerst unzureichend. Pankraz und die Seinen bilden nur einen Teil des Spektrums an Figuren, die Bierbichler auftreten lässt. Denn zum erweiterten Familienkreis und dem dörflichen Panoptikum gehören gleichberechtigt ebenso Knechte und Mägde, andere Gestalten des ländlichen Kosmos sowie Heimatvertriebene, die nach dem Krieg auf dem Hof Unterschlupf finden. Rund um diese Menschen reiht der Autor eine markante Episode an die andere. Er erzählt mit grobem Pinselstrich und in expressionistischen Farben. Mal sind die Szenen brutal-realistisch, dann wieder driften sie ins Komisch-Surreale ab. Viele Passagen des Romans prägen sich geradezu unbarmherzig ins Gedächtnis ein.

Das gilt in besonderer Weise für das geschilderte Schicksal des Fräuleins von Zwittau – wobei Bierbichler sich schon bei der Namenswahl keinerlei Mühe gibt, subtil zu sein. Die vornehme ältere Dame, Spross einer ostpreußischen Adelsfamilie, hat es nach der Vertreibung aus der Heimat unter das Obdach der Seewirtsfamilie verschlagen. In einer Rückblende deckt Bierbichler im wahrsten Sinne das Geheimnis des Fräuleins auf. Er erzählt, wie russische Soldaten in den heimischen ostpreußischen Gutshof eindringen und das schon nicht mehr junge Fräulein als letztes dort verbliebenes Mitglied der Adelsfamilie überfallen und vergewaltigen wollen. Doch als sie den Frauenkörper in der Eingangshalle zum Missbrauch aufbahren und mit den Bajonetten das Nachthemd zerschneiden, entdecken die Soldaten zwischen den Beinen des Fräuleins ein verkümmertes männliches Geschlechtsteil. Sie ist intersexuell – was Bierbichler in seinem direkten, derben Duktus freilich anders ausdrückt:

„Auf der Scham des Fräuleins reckt sich die ausgegrenzte Lust des Zwitters, das Mal des Hermaphroditen. Das Fräulein hat eine Zipfelpritsche. So nennt man dieses Phänomen in jener Gegend auf dem Land, wohin das Fräulein in den nächsten Tagen fliehen wird, wenn man es ins dortige, dialektgefärbte – und plump direkte – Reden übersetzt. Zipfelpritsche.“ (Seite 138)

Auch der Seewirt wird später mit der Intersexualität des Fräuleins konfrontiert sein. Es ist einer von vielen Aspekten, mit denen die oft bedrohlich wirkende Vielfalt und Veränderung der Gesellschaft in die zuvor geschlossene bäuerliche Welt eindringt und sie herausfordert.

Kulturgeschichte des Starnberger Sees

Eine große Stärke von Mittelreich ist, wie der Roman eine klug beobachtete Kulturgeschichte des Starnberger Sees im 20. Jahrhundert zeichnet. Zunächst sind es die Sommerfrischler aus der Stadt, die das erste Stück Kultur und Offenheit aufs Dorf bringen. Später beanspruchen Erholungsuchende einen Platz am See, wollen baden und die Landschaft auf Grundstücken genießen, die die Einheimischen nur als landwirtschaftliche Nutzflächen betrachten. Hippies lassen sich frech auf den bäuerlichen Wiesen nieder, kiffen, praktizieren freie Liebe und lassen sich kaum verscheuchen – bis die Bauern verstehen, mit dem Andrang auf ihre Ufergrundstücke ein gutes Geschäft zu machen. Später wird der Zugang zum See politisch als soziales Recht für alle Menschen interpretiert, Enteignungen stehen im Raum.

Und auch eine politische Geschichte Bayerns erzählt Mittelreich: vom Nazi-Mitläufertum über die Konfrontation mit den Schrecken der Nazi-Verbrechen, eine eher aufoktroyiert wirkende Reue – schon bald nach dem Krieg tanzt man beim Faschingsball wieder gedankenlos im Hitler-Kostüm – bis hin zum Bruch der 68er mit der Elterngeneration, zu Liberalisierung und Friedensbewegung.

Ja, Bierbichler schöpft aus den Vollen – inhaltlich wie auch sprachlich. Er erschafft eine Kunstsprache, die die Derbheit und Unverstelltheit des Dialekts mit einem geradezu barocken Kunstwillen mit vielen Adjektiven und verschachtelten Sätzen verbindet.

Schonungslos und derb

Von Anfang bis Ende peitscht der Autor seinen Text nach vorne. Was an vielen Stellen sehr eindringlich und faszinierend wirkt, hat mich zum Ende hin allerdings etwas ermüdet. Bierbichler sattelt immer noch einen drauf, will noch einmal schockieren, etwa mit der schonungslos detaillierten Schilderung, wie ein Schwein geschlachtet wird, was Semi dann auch noch mit dem Samenerguss des unappetitlichen Missbrauchs-Paters assoziiert. Dass sich Semi zum Schluss noch nackt auf den Körper der sterbenden Mutter legt, hätte ich persönlich auch nicht unbedingt gebraucht.

Insgesamt ist es schon viel Körperlichkeit, die Bierbichler seinen Lesern – natürlich bewusst – zumutet. Die ein oder andere Erektion weniger hätte es auch getan. Oft ist seine Derbheit und Direktheit authentisch und eindringlich, manchmal wäre nach meinem Geschmack weniger mehr gewesen. Insgesamt ist Mittelreich aber ein Monolith von einem Roman, nach dessen Lektüre es nicht verwundert, dass Bierbichler diesem Kraftakt bis dato kein weiteres Werk folgen ließ.

  • Josef Bierbichler, Mittelreich, Suhrkamp, 392 Seiten; gebundene Ausgabe nur noch antiquarisch erhältlich; als Taschenbuch: 10 Euro.

8 Kommentare zu “Josef Bierbichler, Mittelreich

  1. Ich habe gerade mal nachgesehen, bei mir liegt die Lektüre des Buchs nun auch schon 12 Jahre zurück. Aber es ging mir wie dir, da waren so manche Szenen, die ich nicht gebraucht hätte. Aber drangeblieben bin ich trotzdem; besonders das Weiterwirken der Vorurteile und Ressentiments hinter geschlossenen Zuhängen – die heute leider so gar nicht mehr unbedingt so geschlossen sind – fand ich grandios eingefangen. Aber noch mal lesen möchte ich das alles nicht. Eigentlich keine einzige sympathische Figur dabei …

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  2. Ich habe das Buch auch vor einigen Jahren gelesen und war ebenso zwiegespalten. Ohne es jetzt jedoch nach dieser Zeit noch näher begründen zu können. Aber ein Gradmesser ist auch immer, ob es in meinen Regalen bleiben durfte oder ob ich es irgendwann wieder weggegeben bzw. verschenkt habe. Und wenn ich mich richtig erinnere, habe ich es weitergegeben, da ich es wohl kein zweites Mal lesen wollte.
    Was mich allerdings schon mal interessieren würde, ist die Verfilmung „Zwei Herren im Anzug“ mit Martina Gedeck und Philipp Hochmair. Wenn mir die mal irgendwo unterkommt, würde ich sie definitiv anschauen. Herzliche Grüße!

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    • Ich hatte das Buch schon einmal zur Zeit seiner Veröffentlichung gelesen und jetzt wieder mit meinem Literaturkreis. Beim Wiederlesen ist mir aufgefallen, dass mir viele Passagen nach all den Jahren noch immer sehr präsent waren. Also, Eindruck hat das Buch bei mir jedenfalls hinterlassen.
      Die Verfilmung würde mich auch sehr interessieren.

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  3. Pingback: Mein Lesejahr 2025: Ein Rückblick | BuchUhu

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