Der Autor Christopher Kloeble verbrachte seine Kindheit und Jugend in einem Dorf ganz in der Nähe meines Heimatortes in Oberbayern. Dort zu leben und aufzuwachsen, kann eine wunderbare Idylle sein, aber auch beengend und ein ständiger Kampf ums Dazugehören ind Ausgeschlossensein. Wenn Kloeble nun diese Lebenswelt in seinem neuen Roman Durch das Raue zu den Sternen schildert, kann ich mich sehr gut hineindenken – auch in das dazugehörige Gefühl der Fremdheit. Kloeble erzählt davon und von noch viel mehr: In Durch das Raue zu den Sternen geht es außerdem um die Horizonte öffnende Macht der Musik. Und es fließen biographische Erfahrungen des Autors in einem renommierten Knabenchor ein.
Als Ich-Erzählerin des Romans stellt sich uns gleich im ersten Satz die 13-jährige Arkadia Fink vor, genannt Moll. Sie lebt Anfang der 1990er-Jahre in einem Dorf nahe der Kreisstadt Bad Loss – allein mit ihrem Vater, seit die Mutter knapp neun Monate vor Einsetzen der Erzählung „kurz weggegangen“ (Seite 9) und bis dato nicht zurückgekehrt ist.
Mädchen will in den Knabenchor
Als Moll in der Schule zufällig mitbekommt, wie dort ein Vorsingen für den berühmten Losser Knabenchor vonstatten geht, setzt sie sich eine fixe Idee in den Kopf: Sie möchte nicht nur in den Chor aufgenommen werden, sondern dort sogar als Solistin auf großer Bühne derart brillieren, dass die Mutter keine andere Wahl haben wird, als voller Stolz zurückzukommen und sich den großen Auftritt von der ersten Zuschauerreihe aus anzuschauen und zu -hören.
Grund zur Annahme, dass die Mutter mit musikalischen Glanztaten zu beeindrucken ist, gibt es genug. Denn sie liebt die Musik, komponiert Sinfonien und hegt und pflegt den heimischen, wenn auch alten und verstimmten Neo-Bechstein-Flügel, ein elektromechanisches Klavier, von dem nur wenige existierende Exemplare bekannt sind. In ihrem dörflichen Umfeld kann sie mit diesen Raritäten und Talenten allerdings nicht reüssieren. Ja, selbst die ersehnte Stelle als Kirchenorganistin ist für sie als Frau scheinbar unerreichbar. Die Nachbarn sehen sie nur als Exzentrikerin, die in der Messe unangemessen hohe Absätze trägt und immer wieder aus der Rolle fällt.
Auch für Molls Ansinnen einer Knabenchor-Karriere stellen die Konventionen nun vermeintlich unüberwindbare Hindernisse auf – angefangen damit, dass sie ein Mädchen ist. Doch mit Chuzpe, unbedingtem Willen und Hartnäckigkeit schafft sie es, zunächst die Tochter des Chorgründers, Eleonora Hans-Gilbert, von ihrem Ausnahmetalent zu überzeugen.
Alltägliche Grausamkeiten
Moll bekommt ihre Chance. Und muss sich nun im Haifischbecken Knabenchor behaupten. Dort herrscht nicht nur eine gnadenlose Hackordnung zwischen den Knaben, sondern auch ein mit diversen Psychospielchen ausgeübter Leistungsdruck durch Chorgründer Richard Hans-Gilbert sowie die musikalischen Chorleiter.
Kloeble schildert die Mechanismen ohne Effekthascherei oder Larmoyanz. Die alltäglichen Grausamkeiten und Machtspiele sowohl unter den Jugendlichen als auch im Umgang der Pädagogen mit den ihnen anvertrauten Kindern treten dadurch umso wirkungsvoller zu Tage. Es sind keine Schläge und keine sexuellen Übergriffe, von denen Kloeble erzählt, sondern Mobbing-Episoden, gezielte Angriffe auf das Selbstwertgefühl und der manipulative Einsatz von „Zuckerbrot und Peitsche“. Wer gut singt, bekommt vom Chorleiter eine Umarmung. Wer den Ansprüchen nicht genügt, wird als Arschloch tituliert.
Seine zugrunde liegende eigene Erfahrung als Sänger im Tölzer Knabenchor beschrieb Kloeble in Interviews als geprägt von einem Druck ähnlich wie im Leistungssport und einem ungesunden und missbrauchsanfälligen Machtgefälle zwischen den erwachsenen Chorverantwortlichen und den kindlichen Musikern. Den Stimmbruch und das damit verbundene obligatorische Ausscheiden aus dem Chor habe er vor allem als Erleichterung empfunden.
Verletzliche Heldin
Seine Romanfigur Moll zeichnet er inmitten dieses Umfelds als eine nach außen Unbeugsame, die gegenüber den Autoritäten ihr Rückgrat behält und sich gegenüber ihren Chorkameraden zu behaupten weiß. Es ist aber Kloebles erzählerischer Kunst zu verdanken, dass wir durch ihre eigenen Worte auch Molls gut versteckte Verletzlichkeit wahrnehmen. Was sie schwach erscheinen lassen könnte, das überspielt oder leugnet Moll schlicht, wenn sie etwa sagt:
„Es stimmt nicht, dass sie mich neulich gezwungen haben, das Kleid meiner Mutter auszuziehen, was ich am liebsten trage, und fast nackt über die Hauptstraße zu rennen und dabei die Bayernhymne zu singen.“ (Seite 9)
Der Leser versteht sofort: Das Geschehen muss sich eben doch genau so zugetragen haben. Indem er sie zur unzuverlässigen Erzählerin macht, bringt uns Kloeble Moll als wunderbar differenzierte Figur mit Brüchen nahe. Das berührt.
Die gleiche Doppeldeutigkeit macht Molls Mutter zu einer faszinierenden Figur. Moll erzählt von ihr nur aus der Perspektive uneingeschränkter Bewunderung. Gleichzeitig weiß man, dass ihr Verhalten den Dorfbewohnern, wohl auch dem eigenen Ehemann, als exzentrisch, wenn nicht gar verrückt erscheinen muss. Letztlich bringt die Mutter das Drama ihres Lebens selbst auf den Punkt:
„,Was wir vom Leben fordern, ist gefährlich, Moll.‘ Ich frage sie, was sie damit meint. Sie sagt: ,Mehr.'“ (Seite 232)
Der Autor überlässt es dem Leser, sich seinen eigenen Blick zusammenzusetzen. Ist diese Iris einfach nur ungewöhnlich oder schon psychisch krank? Für mich ist die Mutter in erster Linie eine Unangepasste, die auf dem Dorf unverstanden bleibt, und der Roman eine wunderbar warme Liebeserklärung an sie und alle, die anders sind und ihre Fluchten aus der banalen Realität in der Kunst finden.
Poetische Sprache
Das Anderssein und Querdenken im seinem ursprünglichen guten Sinne transportiert auch Kloebles unverkennbarer sprachlicher Stil. Seine Neigung zur Anhäufung ungewöhnlicher Metaphern, von Wortspielen und poetischen Stilfiguren: Hier passt sie. Ebenso originell und vielsagend über ihr Verhältnis zum Vater ist etwa Molls Formulierung dafür, dass er sie bisweilen allzu grob anpackt:
„Der blaue Fleck an meinem Arm sieht aus wie eine halbe Note. Mein Vater hinterlässt manchmal auch ganze Noten auf meinen Armen. Viertelnoten eigentlich nie. Mein Vater ist kein brutaler Mann, sagt meine Mutter, er drückt mit seinen Händen Liebe aus. Er drückt die Liebe in meine Haut. Nur merkt er nicht immer, wie stark er liebt.“ (Seite 29)
Die Beurteilung, ob es sich nun um eine gefährliche Beschönigung von häuslicher Gewalt handelt oder um den Ausdruck von Molls hoher Kunst, den Blick liebevoll auf das Gute im Menschen zu fokussieren, überlässt Kloeble ganz dem Leser.
Im Allgemeinen sind Kloebles Sätze einfach, kurz, bisweilen stakkatohaft, was immer wieder zu einer hohen Intensität führt – bis zum Schluss, der unter die Haut geht. Durch das Raue zu den Sternen verdeutlicht in mehrfacher Hinsicht: Sowohl Musik als auch Literatur eröffnen Auswege aus begrenzenden Realitäten.
- Christopher Kloeble, Durch das Raue zu den Sternen, Klett-Cotta, 240 Seiten, 24 Euro.
Ein toller letzter Satz! „Sowohl Musik als auch Literatur eröffnen Auswege aus begrenzenden Realitäten.“
Danke für diesen feinen Beitrag und herzliche Feiertagsgrüße!
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Vielen Dank und Dir auch einen schönen Feiertag!
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