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Großstadtromane gibt es so einige in der Literaturgeschichte. Etwas seltener kommt es vor, dass sich Autoren das flache Land aussuchen – nicht nur als Schauplatz, sondern sogar als eigentlichen Protagonisten eines Romans. In diese Reihe gehört das Buch Dreißig Tage der flämischen Autorin Annelies Verbeke. Sie zeigt darin, dass es auch in Regionen, in denen der sprichwörtliche Hund begraben liegt, viele Geschichten zu erzählen gibt. Zusammengehalten von einer Hauptfigur, die man ins Herz schließt, entfaltet die Autorin ein Panorama menschlicher Schicksale und Abgründe im nordwestbelgischen Landstrich Westhoek. Mein Eindruck von Land und Leuten wie auch von diesem literarischen Werk, lässt sich am besten mit dem Wort „eigen“ zusammenfassen.

Land und Leute in der Westhoek

Als Leser*innen entdecken wir die Westhoek, diese „Westecke“, durch die Augen eines Zugezogenen und ein Stück weit Außenstehenden. Der dunkelhäutige Alphonse ist mit seiner Freundin Kat aus Brüssel hinaus aufs Land gezogen und verdingt sich hier als Handwerker: Mit seinem Transporter mit Regenbogenlogo fährt er unerschütterlich gut gelaunt durch die Dörfer und steuert die in die Jahre gekommenen Häuschen der heimischen Bevölkerung an, um dort Wänden einen neuen Anstrich zu verpassen und andere Reparaturen auszuführen. Dieser Handlungsstrang erlaubt es uns, Einblicke in die Lebenswelten verschiedener Menschen zu nehmen – zumal Alphonse etwas an sich hat, das praktisch jeden Kunden dazu bringt, ihm sein Herz zu öffnen und seine privaten Probleme anzuvertrauen.

Da sind zum Beispiel die beiden benachbarten Ehepaare, die miteinander bis auf Blut zerstritten sind und sich des Mordes an den Katzen der jeweils anderen beschuldigen – wobei es Alphonse nicht viel Mühe kostet, hinter der Fassade ein ganz anderes Bild zu entdecken. Da ist eine alte Dame, die über Jahrzehnte ihren behinderten Bruder pflegte und sich die Schuld an seiner Beeinträchtigung gibt, weil sie ihn als Baby hat fallen lassen. Auch ein Nachbar, der um seine Frau trauert, sucht Alphonses Nähe. Eine Verbindung will er über seine Forschungen zu den „Senegalschützen“ herstellen, die eine eigene Einheit des französischen Heeres bildeten und speziell im Ersten Weltkrieg im Einsatz waren – Senegal ist auch das Land, in dem Alphonses Wurzeln liegen.

Seine Partnerin analysiert die rätselhafte Anziehungskraft des Handwerkers so:

„Kat meint, seine Hautfarbe betone, dass er außerhalb ihres Lebens stehe, und deshalb gewährten sie ihm Einblick. Seine Hautfarbe ist die Soutane des Priesters, das Berufsgeheimnis des Psychiaters.“ (S. 41 f.)

Rassismus, offen und versteckt

In Alphonses Alltag spielt freilich auch die gegenteilige Reaktion auf seine Hautfarbe immer wieder eine Rolle. Betritt er ein Lokal, treffen ihn misstrauische Blicke. Teils sind es scheinbar unbedachte Bemerkungen, die einen mehr oder weniger latenten Rassismus verraten, wenn der Nachbar etwa ein „ihr“ verwendet, mit dem er „die Afrikaner“ meint, wenn eine Autorin ihm in einer erotischen Geschichte zum Sex-Objekt macht oder er bei einem Auftrag von einem betrunkenen Nachbarn als Call-Boy statt als Handwerker eingestuft wird. Bei anderen Gelegenheiten versteckt sich die Xenophobie gar nicht erst. Da schallt irgendwo aus einer Gruppe junger Leute das Wort „Neger“ durch die Luft, wenn er vorbeikommt. Man gibt ihm das Gefühl, er sei ein Einbrecher, als er sich für seine Arbeit einem Haus nähert. Oder eine Kundin storniert ganz unverhohlen und voller Wut einen Auftrag, weil sie nicht gewusst habe, dass er schwarz ist. Was über den Roman hinweg vor sich hin brodelt, spitzt sich am Ende abrupt zu einem erschütternden Ende zu.

Umso erstaunlicher ist es, mit wie viel Sympathie, Empathie und unendlicher Geduld Alphonse all seinen Kunden gegenübertritt. Nicht nur dass er ein offenes Ohr für alle ihre Probleme und Problemchen zeigt, er nimmt auch in seiner Freizeit so manchen Hilferuf entgegen und lässt dann alles stehen und liegen, um jemandem zu Hilfe zu eilen – etwa als der Geist des verstorbenen behinderten Bruders die alleinstehende Seniorin heimsucht.

Liebevoller Blick auf die Landschaft

Liebevoll ist auch Alphonses Blick auf eine Landschaft, die zwischen räumlicher Weite und geistiger Enge – und das alles bei schlechtem Wetter – nicht viel zu bieten zu haben scheint. Kriegsgräberstätten, verlassene Grenzposten, verstreute Dörfer, ein paar Schwärme von Zugvögeln, die eine oder andere menschenleere Dorfkneipe, Menschen, die sich Dreiviertel des Jahres in ihre Häuser zurückziehen und hie und da misstrauisch hinter ihren Gardinen hervorlugen, um sie gleich wieder hastig zuzuziehen. Doch Alphonse findet:

„Gerade weil es nicht viel Ablenkung gibt, bekommt man einen anderen Blick auf das, was da ist. Was da ist, verlangt nach deiner Aufmerksamkeit, es bekommt einen Glanz.“ (Seite 141)

Und selbst das Spießertum und die Aura der Überalterung und des Aus-der-Zeit-Gefallenseins berühren sein Herz:

„Er mag alte Häuser, besonders diese kleinen, schon etwas aus der Form geratenen, mit ihren Handtuchgärten voller Kitsch und Naturpracht, jede Sonnenuhr so blank geputzt, jeder Kelch so liebevoll gehegt, dass selbst der zynischste Wächter des guten Geschmacks davon ergriffen sein muss. Die Pflege, die diese Frau ihrem Gärtchen angedeihen lässt, rührt Alphonse.“ (Seite 65)

Nun ja, ich muss sagen, dass bei der Liebeserklärung an die Westhoek der Funke nur bedingt auf mich übergesprungen ist. Doch der Autorin gelingt es mit ihren Beschreibungen durchaus, ein plastisches Bild eines randständigen Landstrichs zu vermitteln, der droht, in Vergessenheit zu geraten. Es ist halt trotz allem eine eher fade Gegend, die auf mich wenig einladend wirkt und die ich nach Abschluss der Lektüre gerne wieder verlassen habe.

Viel schwarzer Humor

Vielleicht war es auch Verbekes Erzählweise, die mich auf Distanz gehalten hat. Denn die meisten ihrer Figuren sind fast wie Karikaturen angelegt. Ihr Stil zeichnet sich durch einen skurrilen, oft schwarzen Humor aus, der mich an vielen Stellen sehr erheitert hat, aber eben auch eine emotionale Bindung erschwert. Ein Beispiel ist die Schilderung des Todes der Ehefrau von Nachbar Willem: Erst fällt ein Geranientopf auf sie herab, dann kommt der Krankenwagen auf dem Weg in die Klinik von der Straße ab, schließlich explodiert im Krankenhaus eine Gasflasche – bis im Wirbel der Evakuierung das Herz der armen Marie-Jeanne versagt. Eine ähnliche Art von Witz entfaltet die Beschreibung eines von einer elektrischen Säge abgetrennten Fingers, der „aufrecht auf dem Boden stand, als würde jemand aus dem unteren Stockwerk durch die Decke zeigen“ (Seite 25 f.). Mit wärmerem Humor zeichnet Verbeke einen Dönerverkäufer, der als Hobby kleine Skulpturen aus Eis schnitzt und im Tiefkühlschrank versteckt, bis er damit auf einem Festival gleichgesinnter Künstler in Japan damit Erfolge feiert.

Rundum liebevoll ist das Bild des Protagonisten Alphonse. Seine Menschlichkeit, sein Einfühlungsvermögen, seine Hilfsbereitschaft machen ihn zu einer Figur, die man immer mehr lieb gewinnt – ohne dass Verbeke ihn verklären müsste. Lange ist mir in keinem Roman – vom wahren Leben wollen wir gar nicht reden – kein so guter Mensch mehr begegnet. Berührt hat mich auch die feinfühlige, authentische Schilderung der langsam gewachsenen Liebe Alphonses zu Kat, entstanden aus einer eher ungewöhnlichen Konstellation. Denn Alphonses Mutter arbeitete als Hausangestellte und Kindermädchen bei Kats Eltern.

Freude hat mir in dem Roman zudem Verbekes Einfallsreichtum bereitet, den sie in vielen überraschenden Episoden entfaltet. Sie entwickelt ihre Themen subtil und differenziert. Und sie hat eine unaufdringlich-poetische Sprache, mit Bildern wie diesem:

„Als würden Eiszapfen in seine Nasenlöcher gedrückt, so schlüpft die Wut in ihn hinein, danach wird sie zu einem Reifen, der sich eng um seinen Kopf legt.“ (Seite 310)

Etwas erschwert hat für mich die Lektüre der fehlende Spannungsbogen, der sich aus der episodischen Struktur ergibt. Die Autorin schildert tatsächlich 30 Tage Alltag, die aufeinanderfolgen, gegliedert in 30 Kapitel, deren Zahl sie von 30 bis 1 rückwärts herunterzählt. Anfangs fand ich die Begegnungen mit den eigenwilligen Nebenfiguren noch erfrischend, aber mit der Zeit war ich irgendwie nicht mehr so offen, immer neuen Menschen und Themen zu begegnen. Und dann ergab, wie gesagt, die Mischung aus dem flämischen Nebel und an die Fenster tröpfelnden Sprühregen mit den teils grellen Farbtupfern der Erzählung kein echtes Wohlfühl-Ambiente. Mein Leseeindruck bleibt zwiegespalten. Aber unterm Strich habe ich doch mehr Licht als Schatten in der Windhoek entdeckt.

  • Annelies Verbeke, Dreißig Tage, Residenz Verlag, 344 Seiten, 24 Euro.

3 Kommentare zu “Annelies Verbeke, Dreißig Tage

    • Liebe Birgit, Du hast mich damals mit Deiner Rezension mit zu dieser Lektüre inspiriert – bis zur Umsetzung dauert es bei mir manchmal ein paar Jahre. Ich bin auch mit großer Begeisterung in den Roman gestartet, aber phasenweise ging mir einfach die Geduld aus. Trotzdem mochte ich es insgesamt.

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