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„Der Tod der menschlichen Empathie ist eines der frühesten und deutlichsten Zeichen dafür, dass eine Kultur gerade in die Barbarei verfällt.“

Auf dieses Zitat von Hannah Arendt bin ich kürzlich auf der Instagramseite von 3Sat gestoßen. Ein Mangel an Empathie ist heute leider in Politik und Gesellschaft alltäglich zu spüren, und es macht mir große Sorge, in welche Richtung das weist. Die jetzige Entwicklung macht auch die Lektüre des rund 80 Jahre alten Romans Der Bienenkorb des spanischen Literatur-Nobelpreisträgers Camilo José Cela einmal mehr aktuell. Das Stadtpanorama aus dem Madrid des Jahres 1943, das er darin entwirft, führt uns mitten hinein in die Lebensrealität, die materielle und geistige Armut, die Abstumpfung und die Mitleidlosigkeit der Menschen in einem faschistischen Staat.

Großstadtroman aus Madrid

Der Bienenkorb – Originaltitel: La colmena – greift mit als Erstes und am prominentesten in der spanischen Literatur eine neue, avantgardistische Gattung des 20. Jahrhunderts auf: den Großstadtroman, wie ihn in den 1920er-Jahren etwa John Dos Passos mit Manhattan Transfer oder Alfred Döblin mit Berlin Alexanderplatz geschrieben hatten. Wie die beiden genannten Vorgänger macht auch Cela die Stadt selbst zum Protagonisten seines Romans und stellt sie anhand einer extremen Zersplitterung der Handlung und einer Vielzahl von Figuren dar.

Um die 300 Personen treten in Der Bienenkorb auf und repräsentieren damit den Bevölkerungsreichtum einer modernen Großstadt. Wir sehen sie in über 200 kurzen Erzählfragmenten, ohne dass sich daraus eine stringente Handlung entwickeln würde. Manche kommen nur ein einziges Mal vor, etwa 60 von ihnen begegnen uns wiederholt in dieser Schilderung von drei kalten Wintertagen in der Franco-Diktatur. Für die Leserinnen und Leser ist es schier unmöglich, den Überblick über das Schicksal jedes Einzelnen zu bewahren. Das Individuum geht im Kollektiv auf. Die jeweiligen Geschichten interessieren den Roman scheinbar  nicht. Vieles bleibt lose und unaufgelöst in der Luft hängen.

Im Café der Doña Rosa

Zunächst streift der Blick über Gäste und Angestellte im Café der Doña Rosa. Die bärbeißige, hypermaterialistische Hitler-Anhängerin führt ihr Lokal wie eine Diktatorin, autoritär und grob gegenüber ihren Angestellten, voller Verachtung gegenüber den Gästen. Beide Gruppen beschimpft sie als Vagabunden, Herumtreiber, Drohnen, Hungerleider, Hunde und Schmeißfliegen. Ihre „Gastfreundschaft“ fasst Doña Rosa in eigenen Worten so zusammen:

„Was diese jämmerlichen Stockfische offenbar nicht wissen: Wir haben, Gott sei Dank, mehr als genug Kunden. Hast du’s kapiert? Wem’s hier nicht gefällt, der kann gehen.“ (Seite 21)

Über die Nachrichten in Radio und Zeitung fiebert sie mit den nazideutschen Truppen mit, für die sich sich von Herzen den Endsieg wünscht, den sich auf magische Weise als mit dem Schicksal ihres Cafés verknüpft sieht.

Die Klientel des Cafés besteht zum Großteil aus Angehörigen des Kleinbürgertums. Viele von ihnen haben bessere Zeiten erlebt, tragen an den wirtschaftlichen, körperlichen und psychischen Folgen des Bürgerkriegs, drohen ins Prekariat abzurutschen, halten jedoch mühsam eine Fassade von Stabilität und Wohlanständigkeit aufrecht. Ihre Dialoge erschöpfen sich in Oberflächlichkeiten und Gemeinplätzen, die Blicke gehen ins Leere. Keiner sieht den anderen, jeder ist gefangen in seinen eigenen Herausforderungen des Alltags, vollauf damit beschäftigt, einen gleichförmigen Tag nach dem anderen zu einem glimpflichen Ende zu bringen. Einziger Fluchtpunkt scheinen für viele ihre kleinen privaten Liebeleien zu sein, die jedoch in der Regel von rein sexuellen und materiellen Interessen geleitet sind.

Die Kellner, Musiker, Schuhputzer und Zigarettenverkäufer im Lokal lassen die Tyrannei Doña Rosas lethargisch und widerstandslos über sich ergehen. Ein erstaunter Gast, der zum ersten Mal im Café ist und zum Zeugen von Doña Rosas Furor wird, fragt erstaunt nach:

„Ist die immer so?“

„Ja, immer. Aber sie meint es nicht bös. Sie hat ein ziemlich heftiges Temperament, aber letztlich ist sie nicht weiter bös.“

„Aber sie hat den Kellner einen Dummkopf genannt!“

„Ach je, das macht doch nichts! Manchmal nennt sie uns Schwule und Kommunisten.“

Der neuen Gast kann’s nicht glauben, was er hört. „Und das lassen sie sich alle gefallen?“

„Ja, mein Herr, wir bleiben ruhig.“ (Seite 22)

Zu den Gästen in Doña Rosas Café zählt auch der arbeits- und obdachlose Intellektuelle Martín Marco in seinem Jackett mit den durchgewetzten Ärmeln und dem Filzhut voller Fettflecken. Er ist neben der bösartigen Wirtin die zweite Figur, die im Roman etwas kontinuierlicher anzutreffen ist. Als er seine Rechnung nicht bezahlen kann, befördert ihn ein Kellner auf Doña Rosas Geheiß mit einem Fußtritt auf die Straße.

Durch die Straßen rund um die Gran Vía

Dieses Ereignis öffnet den Raum der Romanhandlung etwas weiter. Wir folgen Martín Marco nun auf seinen Streifzügen durch die Stadt, etwa zu seiner Schwester Filo, die sich am Rand des Existenzminimums mit ihrem Mann Roberto durch den Alltag kämpft, in die Bar des Nietzsche lesenden Wirts Celestino, in das Bordell der Doña Jesusa oder, an der Hand weiterer Figuren, in ein Mietshaus, in dem ein Mord an einer alten Dame geschieht, und in ein Stundenhotel, in dem sich viele Wege kreuzen – peinlicherweise auch die von Doña Rosas Schwager Don Roque, der hier ein Zimmermädchen trifft, und von dessen Tochter Julita auf dem Heimweg von einem heimlichen Schäferstündchen mit ihrem Freund.

Letztlich bleiben es aber die immer gleichen Straßenzüge und Treffpunkte rund um die Gran Vía im Zentrum von Madrid, in denen sich die Figuren bewegen. Genauso eng umgrenzt bliebt der zeitliche Rahmen der Handlung vom Nachmittag des ersten bis zum Abend des zweiten Tags. Die achronologische Anordnung der sechs Kapitel verstärkt dabei den Eindruck eines geschlossenen ewigen Kreislaufs. Wenn im letzten Kapitel der Anbruch eines neuen Tags geschildert wird, lässt sich das nicht mit der Symbolik von Hoffnung und Neubeginn verbinden. Als Leser*innen haben wir in den vorangegangenen beiden Kapiteln bereits erfahren, was Nachmittag und Abend dieses Tages bringen werden: nichts entscheidend Neues.

Anders als bei John Dos Passos oder Alfred Döblin führt die Fragmentarisierung und Multiplizierung bei Camilo José Cela nicht etwa zum Bild einer Großstadt, zu der auch Vielfalt, Chancen, Möglichkeiten, Lichter und faszinierende Perspektiven gehören. Nein, Celas Madrid macht einen klaustrophobischen Eindruck. Die Waben dieses wimmelnden Bienenkorbs sind klar voneinander isoliert, seine Geschäftigkeit bleibt tumb und rein aufs Überleben ausgerichtet. Seine Individuen sind kaum zu unterscheiden.

Alltag im Faschismus

Einzig Martín Marco ist ansatzweise so etwas wie ein Sympathieträger. Doch von einem Ausbruch aus dem perspektivlosen Hamsterrad ist auch er weit entfernt. Zu naiv, zu realitätsfremd und oberflächlich sind seine sozialen Utopien („Daß es Arme und Reiche gibt […], ist schlecht. Es wäre besser, wir wären alle gleichgestellt, nicht zu arm und nicht zu reich, so eine Mittellage für alle“, Seite 61 f.), als dass sie dazu geeignet wären, wirklich etwas zu verändern und neue Horizonte zu öffnen. Die Angst vor der allgegenwärtigen staatlichen Gewalt, wie sie bei einer Ausweiskontrolle durch einen Polizisten und Martíns Panik dabei zum Ausdruck kommt, tut ein übriges.

Die anderen Figuren verharren in ihren Mechanismen von sexueller und materieller Ausbeutung, erzkatholischer Bigotterie oder illusorischer Weltflucht. Statt sich zu solidarisieren, sind die Menschen froh, jemanden zu finden, auf den sie herabschauen und über den sie urteilen können: „Wer nicht arbeitet, ja sehen Sie, wer nicht arbeitet, hat auch kein Mitleid verdient. Wir anderem leben auch nicht von der Luft“ (Seite 32). Wer, wie der Schutzmann Julio García Morrazo, einen Platz im System ergattert hat, sieht sich in einer Machtposition („Natürlich, man gehört ja jetzt zur Obrigkeit“, Seite 156) und führt ansonsten aus, „was ihm geheißen wurde“, ohne zu hinterfragen. Julio „verzog keine Miene und fand alles in Ordnung, was er tun mußte“ (Seite 156).

Kalt und empathielos wirkt nicht zuletzt der Blick des Erzählers auf sein Figurenensemble. Zunächst erscheint es so, als zeige der Roman bloß neutrale Blicke wie durch das Auge einer Kamera, die in kurzen Abständen den Fokus wechselt. Das entspricht Celas eigenen Aussagen, er habe in La colmena nichts anderes getan, als völlig absichtslos die Realität abzubilden, wie sie ist. Dieser vorgebliche blanke Realismus dürfte aber eher eine Strategie sein, die Zensur zu umgehen.

Bei genauerem Hinsehen nämlich ist durchaus eine Erzählinstanz mit eigener Haltung zu erkennen. An vereinzelten Stellen gibt sich da ich „ich“ zu erkennen, das keineswegs neutral spricht, sondern bisweilen zynisch und ironisch kommentiert, bisweilen selbst gnadenlos urteilt, indem es etwa Doña Rosa immer wieder entmenschlicht und mit Tierattributen versieht („Wie eine Eidechse, die sich häutet, sieht sie aus“, Seite 5). Wärme und fast so etwas wie Zärtlichkeit dagegen lässt die Erzählstimme desto mehr erkennen, je randständiger eine Figur ist. Vor allem gilt die Empathie den in der katholischen spanischen Gesellschaft geächteten Prostituierten, bei denen die sozialen Umstände geschildert werden, die sie in ihre Lage zwangen. So zählen zu den heimlichen Heldinnen des Romans die Liebesromane lesende Elvira, die in Doña Rosas Café so etwas wie ein Möbelstück ist, oder Purita, in deren Armen Martín einen der wenigen Momente echter Nähe erlebt.

Von der Zensur verboten

Mag es nun diese „unsittliche“ Attitüde sein, die relativ explizite Darstellung der Sexualität oder doch vor allem die unverkennbare Kritik an den sozialen und politischen Verhältnissen der Franco-Diktatur: Der Bienenkorb entkam zunächst trotz aller Camouflage-Techniken nicht der Zensur des Regimes. In einer ersten Version schon 1948 fertig gestellt, wurde der Roman erst 1951 gedruckt, und zwar in Argentinien. Ironischerweise hatte Cela, der im Bürgerkrieg auf Seiten der Faschisten kämpfte, sich 1938 selbst der franquistischen Zensurbehörde angedient und blieb in der Lebenswirklichkeit auch später noch zum Beispiel mit frauen- und schwulenfeindlichen Äußerungen eine politisch mindestens ambivalente Persönlichkeit.

In Der Bienenkorb aber haben die Leserinnen und Leser mit Sicherheit mehr und anderes entdeckt. Nach seiner Veröffentlichung in Spanien wurde La colmena dort über Jahrzehnte zum großen Erfolg und gilt längst als Klassiker. Die Verfilmung von Regisseur Mario Camus aus dem Jahr 1982 wurde bei dem Filmfestspielen in Berlin mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. 1989 erhielt Camilo José Cela den Literaturnobelpreis.

Neue Horizonte im Epilog?

Die größte Hoffnung, aber auch die größte Bedrohung birgt in Der Bienenkorb ein Epilog, der auf die sechs Kapitel des Hauptteils folgt. Cela bricht hier die zeitliche und örtliche Struktur des Romans auf. Martín hat ein paar Tage nach der Haupthandlung erstmals die ewig gleichen Straßen seines Viertels verlassen. Beim Besuch am Grab seiner Mutter am Stadtrand öffnet sich ihm ein Blick, der über die Enge der Stadt hinausweist.

„Hinter den Lehmmauern des Friedhofs, ganz in der Ferne, erkennt man die gelbbraune Ebene, auf der die Sonne verweilt, als sei sie dort zur Ruhe gegangen. Die Luft ist kalt, aber es ist nicht diese durchdringende, eisige Kälte. Martin, den Hut in der Hand, bemerkt, wie seine Stirn mit leichter Liebkosung berührt wird, eine fast vergessene Liebkosung aus der Kinderzeit.“ (Seite 278)

Martín spürt für einen Moment so etwas wie Freiheit – nicht ahnend, dass eben diese Freiheit gerade akut bedroht ist. Zur gleichen Zeit entnehmen seine Verwandten und Freunde in der Stadt nämlich der Zeitung, dass Martín polizeilich gesucht wird. Erstmals weisen die verschiedenen Fragmente des Textes nun eine innere inhaltliche Verbindung auf. Alle Figuren eint die Sorge um Martín, erstmals ist eine Solidarisierung spürbar, denn jeder überlegt, wie er Martín helfen kann. Ob das freilich reicht, um die Mechanismen der faschistischen Gesellschaft zu durchbrechen, bleibt in diesem Moment fraglich. Zu bedrohlich schwebt noch die staatliche Gewalt in ihrer Willkür – ein Grund für Martíns Verfolgung wird nicht genannt – über allem. Bis zum Ende der Diktatur in Spanien sollte es noch einige Jahrzehnte dauern.

  • Camilo José Cela, Der Bienenkorb, E-Book bei Piper Digital, 284 Seiten, 9,99 Euro.
  • auf Spanisch: Camilo José Cela, La colmena, Edición de Jorge Urrutia, Ediciones Cátedra, Letras Hispánicas 300, 368 Seiten.

3 Kommentare zu “Camilo José Cela, Der Bienenkorb (La colmena)

  1. Pingback: Mein Lesejahr 2025: Ein Rückblick | BuchUhu

  2. Hallo lieber Andreas, diese Buchbeschreibung hat mich sehr berührt und an einiges erinnert was ich in 72 Lebensjahren erlebt und empfunden habe.
    Seit ca. Anfang der 90er Jahre beobachte ich eine zunehmende Verrohung der Sitten und vor allem des Umgangs der Menschen miteinander in unserer Gesellschaft. Vielleicht bin ich zu sensibel, oder/und gehe nicht im Mainstream mit. Aber diese Veränderung in einer Gesellschaft weisen oft, manchmal , immer ? auf faschistoide Züge und Verhaltensweisen hin. Ich hoffe immer noch jeden Tag, dass es eine positive Veränderung zum Besseren in unserer Gesellschaft geben wird.
    LG Angela

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    • Liebe Angela, tatsächlich gibt es viele gesellschaftliche Entwicklungen, die einem beim Blick in die Geschichte bekannt vorkommen und die mir auch große Sorgen bereiten. Man kann nur hoffen, dass das Pendel irgendwann wieder in die andere Richtung schwingt.

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