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Wenn ich auf das Jahr 2025 zurückblicke, überwiegen für mich die traurigen, schweren Erinnerungen, denn ich musste Abschied von meiner Mutter nehmen. Ihr Todestag hat nicht nur das Jahr, sondern sicher auch mein Leben in ein Davor und ein Danach geteilt. Es fühlt sich daher ein wenig seltsam an, einen Rückblick auf mein Lesejahr zu schreiben, denn gegenüber meinen persönlichen Erfahrungen kommt es mir zweitrangig vor, Protokoll über mein Hobby zu führen. Und doch sind eben auch die Bücher, die mich durch diese Lebensphase begleitet haben, untrennbarer Teil meines Jahres. Zeitweise fehlten mir Ruhe, Zeit und Konzentration zum Lesen. Aber Lesen war auch ein wichtiges Stück Kontinuität und Halt für mich.

Von den Pyrenäen in den Quercy

Also zur Sache: Dass ich Mitte des Jahres aus der (Lese-)Bahn geworfen wurde, schlägt sich auch in der im Vergleich zum Vorjahr geringeren Gesamtausbeute nieder. Jetzt, kurz vor Silvester, lese ich an meinem 21. Buch in diesem Jahr. Es passt gut in eine Phase der Beruhigung und relativen Entspannung. Marie des Brebis – Untertitel: Der reiche Klang des einfachen Lebens – ist die Geschichte einer Frau, die ihr Glück der Gabe verdankt, im Einklang mit sich selbst, mit der Natur und mit dem, was sie hat, Zufriedenheit zu finden, Schicksalsschläge anzunehmen und zu überwinden. Der französische Autor Christian Signol hat sich diese Biografie aus dem ländlichen Quercy im Frankreich des 20. Jahrhunderts erzählen lassen und gibt sie in den Worten Maries in erster Person wieder, voller Weisheit, Wärme und innerem Frieden. Das Buch schließt für mich perfekt den Kreis zu meiner ersten Lektüre des Jahres, Wie ein Stein im Geröll von Maria Barbal, das ebenfalls das einfache Leben einer Frau in einer abgelegenen ländlichen Region – in diesem Fall die Bergdörfer der Pyrenäen – thematisiert, die von den Stürmen der historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts heimgesucht wird.

Heimat lesen

Das Leben auf dem Land ist überhaupt ein Thema, das sich durch mein Lesejahr zieht. So habe ich – auch entlang eines Semesterthemas meines Lesekreises – mehrere Bücher aus und über meine Heimat Oberbayern gelesen. Jeder ist wer, die autobiografischen Notizen des Kabarettisten Josef Brustmann, und das Sachbuch Föhrenwald. Das vergessene Schtetl von Alois Berger, führten in die spannende Geschichte von Waldram, wo ich aufgewachsen bin und wo ich zuletzt bis zu ihrem Tod wieder bei meiner Mutter lebte.

Mittelreich von Josef Bierbichler spielt am nahe gelegenen Starnberger See, einem weiteren Schauplatz meiner Jugend und bis heute bisweilen ein Ausflugsziel für mich. Heutzutage fahre ich im Sommer zum Baden am liebsten an den Walchensee. Dort ist die Handlung des Romans Triebwasser von Sandra Altmann angesiedelt, der die Zeit des Baus des Walchenseekraftwerks vor 100 Jahren thematisiert und den ich für meinen Lesekreis zum zweiten Mal nach 2024 las.

Einen engen Bezug zu weiteren Orten meines unmittelbaren Lebens- und Arbeitsumfelds hat der Roman Durch das Raue zu den Sternen von Christopher Kloeble. Er ist in Königsdorf aufgewachsen und sang als Kind im Tölzer Knabenchor. Beides spiegelt sich in verfremdeter Form in seinem neuen Buch wider. Ich habe den Roman zuerst im Sommer und danach im Herbst noch ein zweites Mal gelesen, um mich auf eine Lesung des Autors vorzubereiten, die ich am 8. November in Bad Tölz organisieren und moderieren durfte. Der Abend war ein Höhepunkt in meinem Literaturjahr 2025. Und auch für Christopher Kloeble war die Rückkehr in seine ehemalige Heimat offenbar ein bemerkenswertes Erlebnis, wie er dieser Tage in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schilderte.

Ein Drittel deutschsprachige Autoren

Mein heimatlich ausgerichtetes Leseverhalten hat natürlich auch die für gewöhnlich eher niedrige Quote der deutschsprachigen Autoren auf meiner Lektüreliste erhöht – auf genau ein Drittel. Zu den genannten Autoren kamen heuer noch Franz Werfel, dessen Klassiker Eine blassblaue Frauenschrift über politischen Opportunismus und den Verlust von Moral von trauriger Aktualität ist, und Eugen Ruge hinzu. Dessen Roman Pompeji greift auf eine noch weiter entfernte historische Vergangenheit zurück, um aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zu reflektieren – auf kluge und ironische Art. Das fand ich unterhaltsam, und es hat mich inspiriert, bei der populären Althistorikerin Mary Beard in Pompeji. Das Leben in einer römischen Stadt das geschichtliche Thema noch etwas zu vertiefen. Von dem 600-Seiten-Wälzer habe ich mit meiner sporadischen Lektüre zwischendurch aber noch nicht ganz so viel bewältigt.

Aber immerhin: Zumindest gelegentlich in ein Sachbuch zu schauen, ist eine weitere kleine Tendenz meines Lesejahrs. Die beiden genannten Waldram-Bücher sind ja der Kategorie Non-Fiction zuzuordnen. Wie bei Mary Beard lediglich hineingelesen habe ich in Marcel Reich-Ranickis Sammlung von Aufsätzen über Thomas Mann und sie Seinen – es blieb leider meine einzige Hommage zum Thomas-Mann-Jahr 2025, trotz besserer Vorsätze.

Von vorn bis hinten gelesen habe ich aber die 525 Seiten von Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit von Yuval Noah Harari. Sehr erhellend, diese übergreifende Perspektive, aber die optimistische Ansicht des Autors, dass sich die Menschheit trotz aller Rückschläge insgesamt doch in Richtung Fortschritt und Vernunft bewege, wirkt angesichts der aktuellen Weltlage heute fast aus der Zeit gefallen. War Sapiens mein dickstes Buch des Jahres, war mein kürzestes der Essay Faschist werden. Eine Anleitung von Michela Murgia – diese sarkastische Analyse des Aufstiegs des Faschismus scheint sich weltweit leider eher zu bewahrheiten.

Accabadora trifft auf Arminuta

Auf Michela Murgia gestoßen war ich zuvor über ihren Roman Accabadora. Die Geschichte über eine traditionelle Sterbehelferin auf Sardinien fügte sich ebenfalls ein in meine kleine Reihe von Geschichten über archaische Gepflogenheiten in einer bäuerlich-ländlichen Umgebung. Zu Accabadora kam mit Arminuta von Donatella Di Pietrantonio noch ein zweites Buch aus Italien. Im Rückblick gesehen war diese warmherzig erzählte Familiengeschichte sicher eines der Bücher, mit denen ich mich dieses Jahr am wohlsten gefühlt habe. Einfach schön zu lesen und etwas zum Mitfühlen.

Zu den beiden Italienerinnen gesellten sich auf meiner Leseliste noch zwei auf Flämisch schreibende belgische Schriftstellerinnen. Trophäe von Gaea Schoeters fand ich hervorragend geschrieben und sehr spannend. Beeindruckt hat mich die Autorin aber auch mit ihrer Persönlichkeit: klug, humorvoll und nahbar, wie ich im Dezember bei einer Lesung in München erleben durfte. Am Anfang als sehr einnehmend, im Verlauf dann aber teils als etwas zäh empfand ich dann die Lektüre von Dreißig Tage von Annelies Verbeke – schon wieder ein Roman über das Leben auf dem flachen Land, in diesem Fall verortet in der Westhoek am äußersten Zipfel Belgiens, die mir der Roman als eher trostlose Gegend vor Augen führte.

Von der Technik der Aufsplitterung der Handlung auf eine Vielzahl von Personen artverwandt, vom Schauplatz her ein großer Kontrast zu Dreißig Tage ist der Roman Der Bienenkorb von Camilo José Cela, den ich Ende des Jahres zum dritten Mal in meinem Leben las (wobei das letzte Mal 27 Jahre zurückliegt). Das Großstadtpanorama aus dem faschistischen Madrid des Jahres 1943 ist eine herausfordernde Lektüre, für mich aber auf alle Fälle ein Lebensbuch.

Frauen in der Mehrheit

Cela bekam den Nobelpreis 1989. 2024 hieß die Ausgezeichnete Han Kang. Nach der Lektüre ihres bekanntesten Romans Die Vegetarierin sage ich: zu recht. Ein Buch des Preisträgers von 2025, László Krasznahorkai, liegt seit Weihnachten auf meinem Stapel ungelesener Bücher. Ich werde mich der Herausforderung gerne stellen.

Wer bis hierher aufmerksam mitgelesen hat, dem ist es vielleicht schon aufgefallen: Werke weiblicher Autorinnen waren heuer in meinem Leseprogramm in der Mehrheit. Sie führen mit 13:8. Dazu beigetragen haben noch vier weitere Bücher. Die Erzählungen der wunderbaren Claire Keegan, gesammelt im Band Liebe im hohen Gras, hatten mich über Silvester ins Jahr 2025 begleitet. Alle sind gut, einige hervorragend und unvergesslich. Intensiv und fordernd war die Lektüre von Löwen wecken von Ayelet Gundar-Goshen. Meine Herren, das ist schon sehr viel Handlung, sehr viel Dramatik, sehr viel politisch-gesellschaftliche Brisanz – mitreißend, aber es gibt keine Zeit zum Durchatmen.

Sich zurücklehnen und es sich gemütlich machen: Das erlaubt die argentinische Autorin Claudia Piñeiro ihren Lesern ebenso wenig. Nachdem sie sich mir im Vorjahr mit Catedrales gleich als mögliche Lieblingsautorin empfohlen hatte, griff ich heuer zu Elena sabe. Einmal mehr beweist Piñeiro darin, welche beeindruckenden erzählerischen Mittel ihr zur Verfügung stehen. Mit den Themen Krankheit, Pflege, Abtreibung und Selbstmord war das Buch für mich in meiner Lebenssituation vielleicht nicht die aufbauendste Lektüre, aber ich konnte Piñeiros Kunstfertigkeit und Raffinesse schätzen. Es war übrigens in diesem Jahr meine einzige Lektüre auf Spanisch, was es mir allerdings nicht unbedingt leichter gemacht hat.

Sehr bereichernd fand ich zuletzt Die Rückseite des Lebens von Yasmina Reza: Miniaturen von jeweils nur wenigen Seiten, teils Szenen aus Gerichtssälen, teils kleine Erlebnisse, Begegnungen und Reflexionen der Autorin. Jedes dieser kleinen subtilen Stücke regt zum Nachdenken an, über die Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens und darüber, dass vieles nicht so leicht zu beurteilen ist, wie es gesellschaftliche Praxis ist.

So, aus den französischen Gerichtssälen werde ich mich jetzt wieder zu Marie des Brebis und ihren Schafherden begeben und das Jahr friedlich ausklingen lassen. Euch allen wünsche ich ein schönes neues Lesejahr, in dem Euch die Literatur durch alles – hoffentlich nur Gutes – begleitet, was die Zeit auch bringen mag.

10 Kommentare zu “Mein Lesejahr 2025: Ein Rückblick

  1. Hallo , es tut mir sehr leid dass du Abschied nehmen musstest von Deiner Mutter – es war schön in dem Artikel ein wenig von Deinen Lebenswegen und Lektüren zu erfahren ! Herzliche Grüße und einen harmonischen Jahresübergang für Dich ! Angela

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    • Vielen Dank, liebe Angela! Auch für Dich einen schönen Jahreswechsel und alles Gute und viele schöne Leseerlebnisse in 2026! Ich freue mich darauf, weiterhin von Dir zu lesen und mich mit Dir auszutauschen. Herzliche Grüße, Andreas

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  2. Hallo Andreas,

    dann wünsche ich dir ein gutes Abschiednehmen, Erholung und Ausblick auf ein hoffentlich viel schöneres Jahr, das bald beginnt. – Ein schöner Leserückblick, und das Buch von Yasmina Reza wandert umgehend auf die lange Wunschliste.

    LG Anna

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    • Hallo Anna,
      vielen Dank für Deine guten Wünsche! Dir auch nur das Beste und viele schöne Lesestunden im neuen Jahr!
      Zum neuen Buch von Yasmina Reza habe ich zwar auch schon einige kritische Stimmen vernommen, aber mir hat es sehr gut gefallen, und ich kann es uneingeschränkt empfehlen. Falls Du es liest, lass mich bitte wissen, was Du darüber denkst.
      Herzliche Grüße
      Andreas

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  3. Danke für diesen sehr persönlichen Einblick in Dein Lesejahr! Und es tut mir sehr leid, dass Du dieses Jahr Deine Mutter gehen lassen musstest. Tröstlich jedoch, dass das Lesen zumindest auch in dieser schweren Zeit ein wenig Halt geben konnte. Von Herzen wünsche ich Dir ein gutes bzw. ein besseres und vor allem ein gesundes und glückliches neues Jahr 2026!

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    • Hallo Barbara,
      vielen Dank für Deine Worte! Nicht sofort, aber mit der Zeit hat mir das Lesen wirklich geholfen, mein Gleichgewicht wiederzufinden. Und auch, Gedanken über Bücher zu teilen, ist mir wichtig. In diesem Sinne freue ich mich auf unseren weiteren Austausch!
      Dir auch alle guten Wünsche fürs Neue Jahr, viel Freude, Glück und Gesundheit.
      Viele Grüße
      Andreas

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  4. Auch ich schließe mich den Beileidsbekundungen an. Ein Elternteil zu verlieren, ist eine einschneidende Erfahrung. Bücher haben auch mir immer wieder zur Seite gestanden. Ich werde mir den einen oder anderen Titel aus Deinem Beitrag „pflücken“ und wünsche Dir alles Gute für das neue Jahr!

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    • Hallo Constanze,
      vielen Dank für Deine mitfühlenden Worte, das ist sehr lieb von Dir!
      Dir auch ein glückliches neues Jahr mit vielen schönen (Lese-) Momenten. Ich freue mich auf Deine Anregungen!
      Viele Grüße
      Andreas

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