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Die Gassen von Comala sind erfüllt vom Wispern der Toten, die Geister der Vergangenheit gehen die Straßen entlang, flüstern sich Gerüchte und Erinnerungen zu, einmal gewesene Familiengespräche, Liebesnächte, Morde schweben zwischen den Mauern. Das verstaubte, backofen-heiße, tote und doch höchst lebendige mexikanische Dorf, der Schauplatz des großen Romans Pedro Páramo, ist ein Ort, an dem die Grenzen zwischen Leben und Tod, zwischen Vergangenheit und Gegenwart verwischen. Und es ist eine Kapitale der Weltliteratur.

Der 1955 erschienene einzige Roman von Juan Rulfo setzte literaturgeschichtlich Maßstäbe, gilt als Wegbereiter des lateinamerikanischen Booms mit den Protagonisten Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa und Carlos Fuentes, aber auch für andere moderne Romanciers wie William Faulkner, die das chronologische Erzählen zu Gunsten einer Fragmentierung und Multiplizierung der Perspektiven, Zeiten und Realitäten aufbrachen. Das Ergebnis sind Texte, die dem Leser viel Konzentration und Mitdenken abverlangen, ihm aber auch neue Lesehorizonte eröffnen.

In Pedro Páramo setzt sich aus vielen kleinen Erzählbruchstücken die Lebensgeschichte eines brutalen, skrupellosen Großgrundbesitzers zusammen. Erst nach und nach wird dem Leser klar, dass es die Toten in Comala sind, die in den verlassenen Häusern und in ihren Gräbern die Geschichte von Aufstieg, Gewaltherrschaft und Fall des Kaziken raunen, aber auch von seiner zarten unerfüllten Liebe zu einer Frau, die sich ihm in den Wahnsinn entzieht. Etwa in der Mitte des Romans stellt man ungläubig fest, dass selbst der vermeintliche Ich-Erzähler, ein unehelicher Sohn Pedro Páramos, tot ist und sich sein Bericht von der Begegnung mit den Gespenstern Comalas nicht etwa an den Leser richtet, sondern an seine Nachbarin unter der Erde.

Einen derartigen Dreh überzeugend zu konstruieren, ist schon allein eine Meisterleistung Rulfos. Doch die erzähltechnischen Raffinessen, an denen man sich allein schon erfreuen kann, sind natürlich kein Selbstzweck. Die Zersplitterung des Textes ist ein brillantes Mittel, um eine Figur wie den Übermacho Pedro Páramo aus der Klischee-Ecke zu befreien, ihn vielschichtig und schillernd darzustellen und ihn gleichzeitig seiner patriarchalen, auktorialen Macht zu berauben. Selbst der Tod verliert hier seine Eindeutigkeit und Endgültigkeit.

Karge Sprache, intensive Bilder und  dichte Atmosphäre tun ihr Übriges, um Pedro Páramo zu einem eindringlichen Leseerlebnis zu machen, das die Augen für die Möglichkeiten der Literatur öffnet.

Juan Rulfo, Pedro Páramo
deutsche Ausgabe: Suhrkamp, 170 Seiten, 8,99 Euro.
spanische Ausgabe: Cátedra (Letras Hispánicas, 189), 168 Seiten.

 

3 Kommentare zu “Juan Rulfo, Pedro Páramo

  1. Pingback: Blogbummel Januar/Februar 2017 – buchpost

  2. Ich sehe schon: Du magst den magischen Realismus. Ich habe Pedro Paramo vor vielen Jahren mit großer Begeisterung gelesen und werde demnächst das Hörbuch hören, weil ich ein MR-Thema auf meinem Blog plane…

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    • Ja, ich bin ein Fan der lateinamerikanischen Boom-Literatur: Vargas Llosa, García Márquez, Cortázar, Carlos Fuentes, Horacio Quiroga und mehr… Pedro Páramo kann ich mir als Hörbuch sehr wirkungsvoll vorstellen. Ich freue mich auf Deine Beiträge zum Magischen Realismus.

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