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Es ist ein Glücksfall, dass das Werk von Clarice Lispector anlässlich ihres 100. Geburtstags dem Publikum auch in deutscher Übersetzung (wieder) zugänglich gemacht wurde. Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau ist der erste von zwei Bänden mit den von Herausgeber Benjamin Moser zusammengetragenen kompletten Erzählungen der großen brasilianischen Autorin. Die Lektüre öffnet die Tür zu einer ganz eigenen literarischen Welt, die sich zu entdecken lohnt.

Clarice Lispector ist eine Autorin von Weltrang, die hierzulande seit Jahrzehnten immer unter dem Radar zu fliegen droht. Es ist ganz und gar berechtigt, dass Kritiker sie in einem Atemzug mit Franz Kafka, James Joyce oder Jorge Luis Borges nennen. Und doch wird ihr zumindest in Deutschland nicht die Aufmerksamkeit und Breitenwirkung zuteil, die einem Klassiker gebührt. Liegt’s daran, dass sie eine Frau ist, die zu ihren Lebzeiten (1920 – 1977) nicht so ernst genommen wurde wie ihre männlichen Kollegen? Dass die eurozentrische Perspektive der Kulturrezeption vermeintliche „literarische Randgebiete“ wie Brasilien bis heute tendenziell übersieht? Oder am nicht gerade leicht zugänglichen Charakter ihres Werks? Vermutlich spielt alles zusammen.

Dabei bedeutet Lispector lesen, sich neue Horizonte der Literatur zu eröffnen. Diese Erzählerin hat eine ganz eigene, unverwechselbare Stimme. Wer ihre Geschichten liest, begibt sich in eine andere Welt, die einen unweigerlich in ihren Bann zieht. Von den Erzählungen geht eine große Faszination aus, fast etwas wie ein Schwindel – durchaus passend zu der charismatischen Aura der Autorin und dem leicht psychedelisch anmutenden Umschlagbild sowie dem schwebend-poetischen Titel von Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau.

Man möge an dieser Stelle von mir bitte keine Inhaltszusammenfassung oder Interpretation einzelner Erzählungen erwarten. Eine Nacherzählung kann den Gehalt einer Lispector-Geschichte nur höchst unzureichend wiedergeben. Wenn ich sage, Lispector erzählt, wie eine Frau beim Anblick eines Rosenstraußes in die Fänge einer psychischen Erkrankung zurückgleitet; wie der Blick aus dem Straßenbahnfenster auf einen Kaugummi kauenden Blinden das Leben einer anderen aus den Fugen geraten lässt; wie ein Mathematiklehrer auf einem einsamen Hügel einen Hund begräbt, den er umgebracht hat: All das würde wenig über die entsprechenden Erzählungen aussagen.

Ich habe die Erzählungen als Reisen in komplexe Seelenlandschaften, in eine Welt der Alpträume, der Ängste, der Gratwanderung entlang psychischer Abgründe gelesen. Lispector erzählt etwas, das sprachlich nicht anders zu benennen ist als mit ihren schwebenden Geschichten.

Dabei siedelt sie die Handlung oft in einem einerseits sehr realistischen, andererseits auch irgendwie gesichtlos-septischen Szenario an: in Wohnungen und Straßen, die unser aller Alltag abzubilden scheinen und die doch merkwürdig abstrakt bleiben. Kaum ein Detail lässt etwa erahnen, dass wir uns in Brasilien befinden könnten. Es ist eine kühle, entfremdete Welt, in der sich Lispectors Figuren bewegen.

In diese sachliche Umgebung zieht dann auf sehr leisen Sohlen das Fantastische ein. Und zwar nicht in Form von märchenhaften Gestalten und magischen Begebenheiten. Es sind vielmehr die Gedanken und Empfindungen, die plötzlich auf einer Parallelebene zur banalen Wirklichkeit zu liegen scheinen.

Wer hier nach rationalen Logikketten sucht, ist fast immer verloren. Doch Lispector schafft es immer wieder, dass der Leser ihr wie in Trance in die Untiefen des menschlichen Daseins folgt. Zu ihren Mitteln zählen dabei eine enorme Feinfühligkeit und ein tiefes Wissen um das Wesen des Menschen, eine große sprachliche Schönheit, das virtuose Spiel mit Licht, Farben, Geräuschen – und auch ein überraschend aufblitzender Humor. Ich gebe aber auch zu, dass ich bei nicht wenigen Erzählungen geistig den Anschluss verpasst habe und vom ersten bis zum letzten Satz vor einem großen, mir unzugänglichen Rätsel stand.

Inhaltlich lässt sich wohl am ehesten subsummieren, dass es um innere und äußerliche Gefängnisse, Befreiungsversuche, Selbstfindungsprozesse, psychische Dilemmata der Frau geht und es sich somit um – in einem weit gefassten Sinn – feministische Texte handelt, auch wenn sich diese Art von Literatur schwerlich zur Ableitung einer konkreten politischen Agenda eignet.

Doch die Erzählung von der Henne, die, zu einem Ende als Suppenhuhn bestimmt, zum allgemeinen Erstaunen in der Küche versucht, ihre Flügel auszubreiten und zum Flug anzusetzen, kommt in dieser Hinsicht eine zentrale Bedeutung zu: mit ihrer für Lispectors Verhältnisse gut entzifferbaren Metaphorik und der ihr eigenen Ironie.

Die 40 Erzählungen dieses Bands hintereinander wegzulesen, ist sicher keine Leseaufgabe für mal eben zwischendurch. Trotzdem würde ich empfehlen, sich den ganzen Band am Stück vorzunehmen. Denn zum einen bieten die ersten frühen Geschichten in der chronologisch angeordneten Sammlung dank nachvollziehbarer Handlungsstränge noch einen relativ verträglichen Einstieg in Clarices Welt. Zum anderen muss man sich auf diesen speziellen Sog einlassen, was beim Lesen vereinzelter Geschichten wahrscheinlich nicht so gut gelingt.

  • Clarice Lispector, Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau. Sämtliche Erzählungen I, Herausgegeben von Benjamin Moser, Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby, Penguin Verlag, 416 Seiten, 24 Euro.

3 Kommentare zu “Clarice Lispector, Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau

  1. „die hierzulande seit Jahrzehnten immer unter dem Radar zu fliegen droht“ – das stimmt, immerhin mit dem Vorteil, dass sich alte Ausgaben oft günstig finden lassen.
    Schön, dass du betonst, dass das eher eine deutsche Vergessenheit ist… Ich habe schon einige Texte gelesen, die von einer Wiederentdeckung schwärmen, als habe die Welt generell eine der bedeutendsten Autorinnen der Moderne vergessen. Das ist mE eher nicht so…
    Ich glaube ehrlich gesagt, es hat in diesem Fall viel mit Brasilien zu tun, dass Lispector vergleichsweise unbekannt ist. Lispector ist noch immer mit Abstand die erste Autorin (Männer eingeschlossen), die mir einfällt, wenn ich nach brasilianischer Literatur gefragt werde (Coelho klammere ich aus). Die Literatur dieses Landes ist mE im Gegensatz zu spanischsprachigen Lat. Amerikanischen Staaten relativ schlecht repräsentiert.

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    • Ich gebe Dir Recht, global gesehen ist Carice Lispector sicher kein vergessener Schatz der Weltliteratur, sondern wahrscheinlich sogar eher so etwas wie eine Starautorin und in Brasilien selbst sowieso Legende – nicht umsonst wurde sie sogar von Caetano Veloso besungen.
      In Deutschland liegen ja aktuell immerhin einige ihrer Romane in Taschenbuch-Ausgaben vor. Dennoch dürfte sich ihre Bekanntheit hierzulande in Grenzen halten. Was die Rezeption lateinamerikanischer Literatur in Deutschland betrifft, gibt es wirklich eine starke Konzentration auf spanischsprachige Werke, und auch da verstellen bis heute García Márquez und Vargas Llosa (die ich beide liebe) den Blick auch manch anderes Interessantes.

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      • Das ist so ein einerseits/andererseits… wie viele deutsche Literatur jenseits von Mann & Goethe wird man zB in Brasilien kennen? Nach Deutsch wird schon beeindruckend viel übersetzt, manche sagen sogar zu viel (weil man lieber safe internationale Literatur übersetzt als Talente zu fördern). Ich finde aus Spanisch-Lateinamerika kennt man schon brutal viel, Bolano ist sogar noch fast jedem ein Begriff, Allende, Borges, Carpentier, Casares, Cortazar, und da sind wir erst beim dritten Buchstaben des Alphabets… Es gibt sicher noch viel gutes, aber dass es sogar immer mal wieder Übersetzungen sehr „frischer“ Autorinnen gibt wie zB die Anthologie „Schiffe aus Feuer“ ist schon fast ein ungewöhnlicher Luxus. Wenn man noch mehr will muss man dann halt wirklich irgendwann sein Spanisch aufs passende Niveau bringen 😉

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