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Alle waren gesund. Denn das konnte man doch wohl nicht Krankheit nennen, wenn Iwan Iljitsch zuweilen erzählte, er hätte so einen sonderbaren Geschmack im Munde und eine unangenehme Empfindung in der linken Bauchgegend.

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Nun, bald darauf wird Iwan Iljitsch tot sein. Er ist eben doch nicht gesund, sondern der Schatten des Todes schwebt bereits über diesen vermeintlich leicht dahingesagten Sätzen.

Die scheinbar banalen Worte bergen so vieles: bittere Ironie; das auf den Punkt gebrachte Phänomen des Nicht-Wahrhaben-Wollens, des Verdrängens, des Wegschiebens einer unangenehmen Wahrheit; die sarkastische Wiedergabe eines impliziten Vorwurfs an den Kranken, es sei seine Schuld, nicht gesund zu sein, oder er sei ein Hypochonder; letztlich die Tragik, die aus dem Wissen des Lesers um das bevorstehende Schicksal Iwan Iljitschs resultiert. Ich finde, diese paar unscheinbaren Sätze aus Tolstois Novelle Der Tod des Iwan Iljitsch hätten eine ganze literaturwissenschaftliche Arbeit über eigentliches und uneigentliches Sprechen verdient und sind für mich jedenfalls höchste Erzählkunst.

Minutiöse Nachverfolgung des Sterbeprozesses

Das gilt überhaupt für dieses kleine große Meisterwerk auf rund 90 Seiten, das Tolstoi 1886, acht Jahre nach Anna Karenina, veröffentlichte. Der Tod des Iwan Iljitsch hat mich noch mehr angesprochen als besagter Großroman. Vielleicht bin ich ja eher ein Leser für die kurze Strecke. Doch Anna Karenina ist eben so breit und monumental angelegt, dass ich als Leser nicht dauerhaft die gleiche Begeisterung und Konzentration für alle Passagen aufbringen konnte wie bei dieser kompakten, konzentrierten Erzählung vom ersten bis zum letzten Satz.

Der Tod ist ein Thema, mit dem man sich eigentlich nicht genug auseinandersetzen kann. Er holt uns alle ein, und bestimmt unsere ganze Existenz. Das wissen wir in der Theorie. Und doch schafft es jeder Einzelne von uns wie auch die Gesellschaft als Ganzes, es so weit wegzuschieben wie möglich. Dem setzt Tolstoi mit der minutiösen Nachverfolgung des Sterbens des Iwan Iljitsch eine ebenso kraftvolle wie schonungslose und wichtige Konfrontation entgegen.

Iwan Iljitsch geht es ja genauso. „Alle Menschen sind sterblich“, das weiß er verstandesmäßig sehr gut. Und doch war ihm dieser Satz „sein ganzes Leben hindurch rechtmäßigerweise (…) keinesfalls auf ihn anwendbar“ erschienen (Seite 56).

Tolstoi schreibt mit Ironie und Empathie

Doch dann ist da dieser Beinahe-Sturz beim Einrichten seines neuen Hauses. Er stößt sich die Seite am Griff eines Fensterflügels. Zunächst brüstet er sich noch damit, wie gut er sich abgefangen habe. Dann sind da – ob im Zusammenhang damit stehend oder nicht – besagte diffuse Schmerzen und der fade Geschmack im Mund. Alles nicht weiter Besorgnis erregend. Der Tod nähert sich Iwan Iljitsch auf leisen Sohlen.

In der Schilderung des Prozesses des Sterbens bringt Tolstoi in aller Kürze viele existenzielle, zeitlose Wahrheiten auf den Punkt, und das sowohl mit galligem Humor als auch mit Empathie und vor allem großer Klugheit.

Zentral ist in der Novelle die Darstellung des Wegs zum Tod aus Sicht des Betroffenen. Tolstois Beschreibungen in dieser Hinsicht haben bis heute ihre Gültigkeit in der modernen Sterbeforschung. Die Phasen von besagter Verdrängung über die Hoffnung, an die man sich wieder und wieder klammert, über Resignation und Depression bis hin zu einem gewissen inneren Frieden macht Tolstoi mit seinem unvergleichlichen psychologischen Feinsinn plastisch. Iwan Iljitschs Todeskampf kulminiert in einem qualvollen dreitägigen Todeskampf. Das Bild, wie sich der Sterbende in einen schwarzen Sack gepresst fühlt und gleichzeitig zu stürzen glaubt, ist äußerst stark und wirkt nachhaltig. Am Ende heißt es:

An Stelle des Todes war ein Licht da.
„So ist das also!“, sagte er plötzlich laut. „Welch eine Freude!“

Seite 90

„So ist das also!“, denkt man sich auch als Leser. So also könnte es sich anfühlen zu sterben. Man glaubt fast, Tolstoi hätte es zum Zeitpunkt des Verfassens des Textes schon selbst erlebt und würde aus dem Jenseits davon berichten.

Gesellschaftskritik am Umgang mit dem Tod

Wo es um den Tod geht, geht es auch um das Leben. Der finale Endpunkt ist gnadenlos mit der Frage verbunden, was man aus seinem Leben gemacht hat. Die Antwort, die sich Iwan Iljitsch auf dem Sterbebett geben muss, fällt ernüchternd aus: „Ja, es war alles nicht das Wahre.“ (Seite 89)

Die Novelle gibt einen kurzen, teils satirisch anmutenden Abriss des Lebenslaufs des Iwan Iljitsch. Seine Existenz und sein Aufstieg zum Richter sind geprägt von Konformität und Konvention. Er orientiert sich stets am Wertekanon und Lebensstil der gesellschaftlich höheren Schichten, geht den Weg des geringsten Widerstands. Seine Machtposition als Richter übt er eher formelhaft und ohne Empathie aus. Dass die Wohnung, die er sich einrichtet und auf die er so stolz ist, aussieht wie alle anderen seiner Zeit und Schicht, bemerkt er nicht. Die Ehe wird nach kurzer anfänglicher Verliebtheit ebenso eine leere Hülse, aus der er sein Herz bald zurückzieht.

Wenn Tolstoi uns nun also den hadernden, gerade einmal 45 Jahre alten Iwan Iljitsch auf dem Sterbebett zeigt, ist dies auch ein eindringlicher Aufruf, die wenige Zeit, die uns auf Erden geschenkt ist, besser zu nutzen und nicht auf reine Äußerlichkeiten und Bequemlichkeiten zu verschwenden. Nicht daran gedacht zu haben, dass er einmal sterben muss, hat Iwan Iljitsch vom „wahren“ Leben abgehalten.

In diese Richtung geht auch die Gesellschaftskritik in Der Tod des Iwan Iljitsch. Die Erzählung zeigt pointiert den Umgang der Außenstehenden mit Krankheit und Tod. Kollegen und sogenannte Freunde spechten auf Iwan Iljitschs frei werdenden Posten und loten ihre Karrieremöglichkeiten aus. Ärzte spulen mechanisch von oben herab ihr Programm ab, ohne auf den Patienten als Individuum einzugehen, und können doch letztlich nur ihre Ratlosigkeit kaschieren. Und für die Familie ist der kranke Iwan Iljitsch nicht viel anderes als ein lästiger Störfaktor, der sie davon abhält, ihrem hohlen Alltag nachzugehen.

Von Mitfühlen ist wenig zu spüren. Geschweige denn, dass die Menschen in Iwan Iljitschs Umfeld auf die Idee kämen, das Thema Tod, mit dem sie doch nun so unmittelbar konfrontiert sind, könnte etwas mit ihnen selbst zu tun haben. Lieber macht jeder damit weiter, seine Zeit zu vergeuden. Vom späten 19. Jahrhundert bis heute hat sich daran wenig geändert.

  • Leo Tolstoi, Der Tod des Iwan Iljitsch, Aus dem Russischen von Johannes von Guenther und mit einem Nachwort von Konrad Fuhrmann, Reclam, 102 Seiten, 9 Euro.

2 Kommentare zu “Leo Tolstoi, Der Tod des Iwan Iljitsch

  1. Hallo,was für schöne Bücher Du raussuchst und rezensierst.Deine differenzierte Rezension gefällt mir sehr gut, auch wenn ich Dein Urteil/Vergleich zu Anna Karenina nicht teile.Wir hatten den Iwan Iljitsch in unserem Lesekreis gelesen, und unser Augenmerk auf die Gefühllosigkeit der Umwelt des Iljitsch gelegt.Und viele Lesefreunde sagten dazu: Ist doch heutzutage genauso.Würdest Du das auch unterschreiben?
    Meine Rezension findest Du unter: https://mittelhaus.com/2019/02/28/lew-tolstoi-der-tod-des-iwan-iljitsch/
    Grüsse aus Berlin!

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  2. Hallo Michael,
    vielen Dank für Deinen Kommentar, ich freue mich sehr, dass Dir mein Blog gefällt!
    Widerspruch ist natürlich auch erlaubt und erwünscht. Anna Karenina ist mit Sicherheit ein großartiger Roman, aber er verlangt dem Leser auch einiges ab. Das war zumindest meine subjektive Leseerfahrung.
    Aber in der Begeisterung für den Iwan Iljitsch sind wir uns ja wieder einig. Ich stimme zu: Der Mangel an Empathie und der gnadenlose Materialismus der Gesellschaft sind leider Themen, die bis heute aktuell sind. Zum Teil fällt es uns und den Figuren in Tolstois Roman aber vielleicht auch deshalb schwer, mit einem Sterbenden zu fühlen, weil uns das so unmittelbar die eigene Sterblichkeit vor Augen führt, die wir doch so abgestrengt verdrängen.
    Herzliche Grüße aus München,
    Andreas

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